Nietzsche: Christlicher Glaube und bejahtes Leben?
Konsequenzen des christlichen Glaubens für das Individuum
Einleitung
In dieser Hausarbeit wird die Frage untersucht, inwiefern nach Nietzsche christlicher Glauben mit einer Bejahung des Leben in Einklang gebracht werden kann und welche Konsequenzen der Glaube für das Individuum hat. Besondere Aufmerksamkeit verdient in dieser Hinsicht der Aspekt der Moral - welche Beziehungen, Konsequenzen und Ursprünge hat sie zu eigen?
Nach einer kurzen Biographie Nietzsches wird im dritten Kapitel der christliche Glauben und die damit verbundene Moral einer näheren Analyse unterzogen. Nach der Erläuterung des Ursprungs aus dem Judentum werden die Aspekte von Intentionalität und Moral ausführlich diskutiert und die Rolle der Priesterschaft näher beleuchtet.
Im Anschluss daran findet Nietzsches Moralphilosophie eingehendere Beachtung. Was ist nach Nietzsche ein Individuum? Was ist Moral? Welche Wechselwirkungen lassen sich zwischen beiden ausmachen und welche Folgen können festgestellt werden? Dabei wird auch eine nähere Differenzierung der Moral vorgenommen und deutlich gemacht, dass es verschiedene Arten von Moral gibt, die auch eine verschiedene Betrachtungs- und Bewertungsweise verdienen.
Nachdem alle notwendigen Begriffe erläutert wurden, wird im fünften Kapitel die gestellte Frage aus der Perspektive Nietzsches beantwortet und begründet. Dabei ist insbesondere Nietzsches Begriff des Lebens von zentraler Bedeutung und die Frage, inwiefern Moral, Individuum und christlicher Glauben mit diesem in Verbindung zu bringen sind, welche Wirkungen sich ergeben.
Abschließend werden die Ergebnisse noch einmal kurz zusammengefasst, bevor ich kurz aus eigener Perspektive Stellung zu der gegebenen Thematik nehme.
Biographie Nietzsches
Friedrich Wilhelm Nietzsche wird am 15. Oktober 1844 in Röcken, einem kleinen Dorf nahe Lützen (heutiges Sachen- Anhalt) als erstes Kind des evangelischen Pfarrers Karl Ludwig Nietzsche und seiner Frau Franziska geboren. Der schon in Kindheitstagen als schweigsam charakterisierte junge Nietzsche verliert im Sommer 1849 zuerst seinen Vater, welcher an "Gehirnerweichung" stirbt, und nur ein halbes Jahr später, am 9. Januar 1850, seinen jüngeren Bruder Ludwig Joseph. Durch die bevorstehende Neubesetzung der Röckener Pfarrei zieht die verbliebene Familie nach Naumburg um, wo Nietzsche die Knaben-Bürgerschule besucht, bevor er im Oktober 1858 in das Elite-Internat im nahegelegenen Saaletal aufgenommen wird. Er fühlt sich wissensdurstig, behauptet sich einige Jahre als Klassenprimus des Internats, liest Hölderlin, gründet mit einigen Freunden einen Selbstbildungsverein und schreibt erste wissenschaftliche Abhandlungen, Dramenentwürfe und Kompositionen.
Nach seinem Abitur im August 1864 beginnt er sein Studium der Theologie und Klassischen Philologie zuerst in Bonn, später in Leipzig. Auf Grund seiner hervorragenden Leistungen promoviert Nietzsche bereits 1869 ohne Prüfung und erhält einen Lehrauftrag für griechische Philologie an der Universität zu Basel (Schweiz). Zu dieser Zeit macht er persönliche Bekanntschaft mit Richard Wagner und ist fasziniert von ihm und seiner Musik.
Seine philologischen Schriften finden nicht die von Nietzsche erwünschte Anerkennung, so dass er sich mehr und mehr der Philosophie zuwendet. Auf Grund seines instabilen Gesundheitszustandes und seines verschlimmerten Augenleidens wird Nietzsche 1876 von der Universität Basel zuerst suspendiert im Sommer 1879 muss er seinen Lehrauftrag gänzlich Nietzsche aufgeben. Es kommt widmet sich zum Bruch mit fortlaufend Richard Wagner und seiner kritischen nunmehr philosophischen Tätigkeit. In immer ausgedehnterer selbstgewählter Einsamkeit entstehen von 1878 bis 1886 seine philosophischen Hauptwerke: "Menschliches, Allzumenschliches", "Morgenröte", "Die fröhliche Wissenschaft", "Also sprach Zarathustra", "Jenseits von Gut und Böse", "Zur Genealogie der Moral", "Götzendämmerung" und "Der Antichrist".
Anfang 1889 erfolgt der physische wie psychische Zusammenbruch Nietzsches. Er wird zuerst in eine Nervenklink in Basel eingewiesen, letzten Endes aber zuerst von seiner Mutter, später von seiner Schwester in Weimar "gepflegt". Dort stirbt Nietzsche am 25. August 1900.
Christlicher Glauben, christliche Moral
Nietzsches Kritik des Christentums, des christlichen Glaubens und der Kirche als dessen Institutionalisierung ist nicht die eines a priori Außenstehenden. "Man muss das Verhängnis aus der Nähe gesehen haben, noch besser, man muss es an sich erlebt, man muss an ihm fast zugrunde gegangen sein" [1] - er hat das Christentum selbst erfahren, hat es selbst gelitten und dadurch ein tieferes Verständnis der zugrundeliegenden Funktionsweisen und Abläufe erlangt. Verschiedenste Anhaltspunkte seiner Geschichte deuten darauf hin, dass Nietzsche seine Kritik nicht vorschnell, unbedacht zum Ausdruck bringt, sondern eine genaue Analyse des Christentums eben deshalb glaubhaft durchführen kann, weil er bereits Teil von ihm war und sich durch eigene Reflexion zu einem neuen, eigenen und bedachten Standpunkt verhelfen konnte. Die Priesterschaft seines Vaters, der durch seine ehemaligen Mitschüler gewählte Spitzname "kleiner Pastor" [2], sein eigenes Studium der Theologie sind Anzeichen für einen umfangreichen und authentischen Erfahrungsschatz das Christentum betreffend.
Das Christentum, so sagt Nietzsche im letzten Aphorismus des Antichristen, sei der eine unsterbliche Schandfleck der Menschheit [3], "die höchste aller denkbaren Korruptionen" [4] - es sei "gegen das Leben selbst" [5] gerichtet. Um dieses schwerwiegende Urteil verstehen zu können, ist es notwendig das Christentum in seinen wichtigsten Facetten einer näheren Analyse zu unterziehen.
Ursprung des Christentums
"Das Christentum ist einzig aus dem Boden zu verstehen, aus dem es gewachsen ist" [6] - diesen Boden sieht Nietzsche im Judentum gefunden. Was aber ist unter diesem "jüdischen Boden" zu verstehen?
Das Judentum ist - nach Nietzsche vereinfacht betrachtet - vor allem dadurch gekennzeichnet, dass es sein Überleben um jeden Preis gesucht hat und in Folge dessen zur "Fälschung aller Natur, aller Natürlichkeit, aller Realität, der ganzen inneren Welt so gut als der äußeren" [7] greifen musste. Der jüdische Gottesbegriff eines starken "Königs [...], der ein guter Soldat und ein strenger Richter ist" [8], konnte im Laufe der Geschichte der Juden nicht aufrechterhalten werden, weil sich die äußeren Umstände des Lebens zu stark verändert hatten - dies führte jedoch nicht zur Verwerfung des Gottesbildes, sondern zur Veränderung seines Begriffs. Aus einem Gott, "der hilft, der Rat schafft, der im Grunde das Wort ist für jede glückliche Inspiration des Muts und des Selbstvertrauens" [9] wurde ein fordernder Gott. Die Priesterschaft konnotierte in Folge dessen "Glück" mit "Lohn" und "Unglück" mit "Strafe" im Hinblick auf einen vorgestellten Gehorsam gegenüber Gott. Was also vorher schlichtes Unglück war, wurde nun zur Gottesstrafe für Sünde und Verfehlung. Diese sittliche Weltordnung, d.h., "dass es, ein für allemal, einen Willen Gottes gibt, was der Mensch zu tun, was er zu lassen habe, dass der Wert eines Volkes, eines Einzelnen sich danach bemesse, wie sehr oder wie wenig dem Willen Gottes gehorcht wird" [10], hat dazu geführt, dass das Verhältnis von Ursache und Wirkung seinem natürlichen Zusammenhang beraubt wurde: es wurde ersetzt durch ein Geflecht widernatürlicher Kausalität. Ein System also, in dem Ereignisse mit moralischen, wertenden Ursachen und Gründen verquickt werden, ohne dass sich dies rational belegen ließe. Dieses moralische Bewertungsparadigma, dieser pervertierte Gottesbegriff bilden nunmehr den Boden für das Christentum, für die christliche Moral und sind eben dadurch gekennzeichnet, dass "der Zufall um seine Unschuld gebracht; das Unglück mit dem Begriff 'Sünde' beschmutzt; das Wohlbefinden als Gefahr, als 'Versuchung'" [11] missgedeutet wird und dass es dem Willen eines fordernden Gottes zu gehorchen gilt.
Christliche Moral und Intentionalität
Aufbauend auf diesem Boden stellt das Christentum "eine Todfeindschafts- Form gegen die Realität" [12] dar und musste in Folge dessen alles Wirkliche pervertieren, in dessen Gegenteil verkehren und diese Imagination einer Welt als von Gott offenbart und alleinige Realität darstellen [13]. Daraus resultiert auch eine Fülle moralischer Werte, die durch die Priesterschaft gesetzt wurden und gleichsam noch heute erhalten werden. Die Aufgabe des Umgangs mit der Wahrheit ist folglich eine dem Priester zukommende. Nicht die Suche nach dieser, sondern ihre Bestimmung, jeweils angepasst an die gegebenen (imaginierten) Erfordernisse, ist nach Nietzsche seine Tätigkeit - eine durchweg unehrliche und manipulative, denn in seinem Einfluss "ist das Wert-Urteil auf den Kopf gestellt, sind die Begriffe 'wahr' und 'falsch' notwendig umgekehrt" [14].
Es ist somit offenkundig, wieso das Christentum die Wissenschaft zu fürchten hat und auch fürchtet, denn dieser alleine kommt die wirkliche Untersuchung von Ursache und Wirkung zu. Wie Aristoteles [15] ist auch Nietzsche der Meinung, dass diese nur dann gedeihen kann, wenn die sonstigen Lebensumstände dies erlauben, d.h., wenn die Menschen die Wissenschaft betreiben sollen, Zeit und Geist übrig haben [16], nachdem ihre lebensnotwendigen Tätigkeiten verrichtet sind. "Folglich muss man den Menschen unglücklich machen" [16], um sicherstellen zu können, dass er sich nicht mit der Wissenschaft beschäftigen und so der Unwahrheit der christlichen Lehre gewahr werden kann. Eine diesbezügliche "gottgegebene" Moral wurde erforderlich - doch wie sollte diese glaubhaft ihren Weg in die Welt finden?
Eine angebliche Mitteilung Gottes tat Not, um den Gläubigen ihre Verhaltensregeln mitzuteilen, eben weil Gott sich notwendig der Greifbarkeit entzieht. "Zu diesem Zwecke bedarf es einer Offenbarung: [...] eine große literarische Fälschung wird nötig, eine 'heilige Schrift' wird entdeckt" [17], von Priestern geschrieben, überliefert und damit "ein für allemal formuliert, was er [, der Priester,] haben will, 'was der Wille Gottes ist'" [18]. Eine sogenannte "Offenbarung Gottes", ein Schriftstück der Priesterschaft, in der sie festlegt, was sie haben will, in der sie sich unentbehrlich macht, um herrschen zu können, um die einzige Instanz zu sein, die definiert, was Sünde ist und gleichzeitig einzige Instanz ihrer Vergebung zu sein [19] - die Sünden "sind die eigentlichen Handhaben der Macht, der Priester lebt von den Sünden" [20]. Vergebung von sogenannten Sünden erfordert somit die Unterwerfung unter den Priester.
Um allerdings dem Begriff der Sünde seine Stärke zu verleihen war ein weiterer Kunstgriff nötig: die Existenz eines "freien Willens" musste proklamiert und verbreitet werden, um die Menschen für alle von ihnen begangenen Handlungen verantwortlich machen zu können. "Die Menschen wurden 'frei' gedacht, um gerichtet, um gestraft werden zu können - um schuldig werden zu können: folglich mußte jede Handlung als gewollt, der Ursprung jeder Handlung im Bewußtsein liegend gedacht werden" [21] eine Annahme, die spätestens seit den revolutionären Erkenntnissen Sigmund Freuds endgültig als widerlegt gelten darf.
Basierend auf diesen Voraussetzungen, der absoluten Schuldfähigkeit des Menschen und den allgemeinen moralischen Gesetzen, ist es dem christlichen Priester möglich gewesen, jegliches ungewollte Verhalten, letztendlich sogar jegliches ungewollte Denken, unter moralische Strafe zu stellen. Der betreffende Mensch, sobald er sich die christliche Moral zu eigen gemacht hat, stellt sich sogar selbst unter Strafe, fühlt sich "sündig" , wenn er moralische Gesetze durch sein Verhalten verletzt glaubt. Dabei ist es nunmehr unerheblich, ob es sich wirklich um eine Sünde handelt - entscheidend ist lediglich, dass der Mensch sich sündig glaubt.
Nicht der Appell an die Vernunft, sondern das Spiel mit den Emotionen ist das Mittel des Christentums, es "verurteilt überhaupt die Vernünftigkeit und fordert die Affekte heraus, sich in ihrer äußersten Stärke und Pracht zu offenbaren: als Liebe zu Gott, Furcht vor Gott, als fanatischen Glauben an Gott, als blindes Hoffen auf Gott" [22]. Der menschliche Verstand soll klein gehalten werden, sein Vertrauen auf die Vernunft unterwandert und der Mensch selbst zum Spielball seiner Gefühle gemacht werden, eben weil diese sich durch moralische Gesetze lenken und induzieren lassen. Der christliche Mensch soll nicht erkennen, er soll glauben, d.h. er soll "nicht-wissen-wollen, was wahr ist" [23]. Dies macht ihn anfällig für Suggestionen aller Art, durch seinen Glauben allerdings im Besonderen anfällig für die durch die Priesterschaft gesetzten moralischen Werte.
Es scheint somit wenig verwunderlich, dass die christlichen Werte im Sinne moralischer Verhaltensregeln auf die Gefühle abzielen. Der offenbarte Gott der Evangelien ist ein Gott der Liebe, ein Gott, der fordert, jeden und alles unter allen Umständen zu lieben [24] - "die Unfähigkeit zum Widerstand wird hier Moral [...], die Seligkeit im Frieden, in der Sanftmut, im Nicht-Feind-sein-können" [25] . Warum eine solche Moral? Eine solche Moral ist Ausdruck der Forderung, keinerlei Widerstand mehr leisten zu müssen, keinerlei Kampf mehr zu führen und dabei immer im Recht zu sein, dafür immer belohnt zu werden, weil den Geboten des fordernden Gottes durch dieses Verhalten genau entsprochen wird. "Die Liebe als einzige, als letzte Lebens-Möglichkeit" [26], als Versuch zu keinem Berührungspunkt mehr mit der Realität zu kommen und so seinen gottgewollten und gottgefälligen Frieden dadurch zu finden, dass die Unlust gemieden wird, die ein Existenzkampf für gewöhnlich mit sich bringt - Resultat der Angst vor Schmerz und des Hasses auf die (auch leidvolle) Realität.
"Die Liebe ist der Zustand, wo der Mensch die Dinge am meisten so sieht, wie sie nicht sind. [...] Man erträgt in der Liebe mehr als sonst, man duldet alles" [27] - ein Zustand, der durch die christliche Moral gefordert wird, um das Leben unter allen Umständen zu ermöglichen und blind zu machen vor der Wirklichkeit. In Anlehnung an diese geforderte Liebe ergibt sich auch die Tugend des Mitleids, die in der Gesamtkonzeption des Christentums eine zentrale Rolle spielt: Leid eines anderen Menschen soll durch den Gläubigen quasi "mit erlitten" werden, er soll bedauert und ihm womöglich geholfen werden. Nietzsche hält dieses Unterfangen für einen Widerspruch zur natürlichen Selektion, weil "es erhält, was zum Untergange reif ist" [28]. Das Leid erfährt durch das Mitleid eine regelrechte Verbreitung, es vermehrt sich, "wird durch das Mitleiden ansteckend" [29] und raubt dem Mitleidenden seine eigene Kraft - unter Berufung auf Aristoteles charakterisiert Nietzsche das Mitleid als "einen krankhaften und gefährlichen Zustand" [30]. Dem Christentum gilt das Mitleid nicht nur als Tugend, sondern als "Boden und Ursprung aller Tugenden" [31] und stellt insofern ein moralisches Gesetz des christlichen Glaubens dar, das "um Gottes Willen" befolgt werden soll. Wie hoch aber soll ein Lohn für ein solches Leben ausfallen und in welcher Form ist er vorstellbar?
Wenn das Diesseits von Schmerz, Schuld, Versuchung, Strafe, Leid und Elend überschattet ist und dem Gläubigen somit keine Freude und Schönheit offenbaren kann, so benötigt das Christentum eine andere Vorstellung, die es den Gläubigen als Hoffnung, als Lohn für all die Gottgefälligkeit und Entbehrung anbieten kann: das Jenseits, das Paradies. Ein Ort, an dem nach dem Leben alles anders, alles besser sein soll - ein Ort, auf den ein Gläubiger zeitlebens hoffen darf, an dessen Erlangung er durch moralische Konformität mitarbeiten soll. Das Starke an dieser Hoffnung ist, dass sie zu Lebzeiten nicht erfüllt wird, also ein Leben lang nicht durch ihre Erfüllung abgeschwächt werden kann, dass sie des Weiteren für einen wirklich gläubigen Menschen kaum zu widerlegen ist, eben weil es sich um einen Akt des Glaubens handelt, der sich als solcher selbst vor der Wissenschaft und der Wahrheit abzuschirmen vermag, weil selbst der Zweifel am Glauben bereits sündhaft wäre [32]. Dem Tod als Ende wird auf diese Weise sein Schrecken genommen und die Hoffnung auf eine Ewigkeit des Seins geschaffen, in Himmel oder Hölle - abhängig vom Gottgefälligkeitsgrad des geführten Lebens [33].
Das Christentum ist also nach Nietzsche ein Herrschaftsinstrument der Priester, die den Gläubigen nicht den Willen Gottes verkünden, sondern ihren eigenen Willen als den des Gottes darstellen. Um ihre Herrschaft jedoch ausüben zu können, müssen einige widernatürliche und unwahre Annahmen über die Wirklichkeit für die Augen der Gläubigen "wahr gemacht" werden, um eine Unterwerfung unter die konzipierten Morallehren zu ermöglichen. So ergibt sich eine komplexe Morallehre mit den (Kardinal-) Tugenden "Glaube", "Liebe", "Hoffnung" [34] und damit verbundenen Geboten, wie z.B. dem Mitleid, die wiederum auf verschiedenen Annahmen über die Natur des Menschen beruht, wie z.B. der absoluten Schuldfähigkeit.
Nietzsches Moralphilosophie
Nietzsche pauschal als einen Gegner der Moral zu bezeichnen wäre weit verfehlt. Zwar wird in seinen Werken wie z.B. in der "Morgenröte", "der Moral das Vertrauen gekündigt", doch aus welchem Grund? "Aus Moralität!" [35]. Es wird klar, dass es für Nietzsche nicht ein Gebilde der Einen Moral gibt, die es anzunehmen oder abzulehnen gilt - im Laufe seiner Werke nimmt Nietzsche eine feine Differenzierung der verschiedensten Komponenten, Ursachen, Wirkungen und Arten der Moral vor und unterzieht diese fortlaufend einer detailierten Analyse, auch um diese immer wieder ins Verhältnis zu anderen (psychischen) Entitäten zu setzen.
Nietzsches Begriff des Individuums
Eine wirkliche und umfassende Definition dessen zu geben, was der Begriff des Individuums bezeichnet, scheint nur schwer möglich zu sein, da der Akt der Definition auf dem Erkennen sämtlicher Charakteristika einer Sache beruht. Somit wäre die Existenz eines Individuums erste Voraussetzung für dessen Definition - und diese Definition vielleicht nur dem Individuum selbst möglich. Es ist jedoch möglich, den Zustand des Individuums zu imaginieren und anhand dessen eine vorläufige (Arbeits- ) Definition abzuleiten.
Eine mögliche Definition basiert auf dem gleichnamigen lateinischen Wort und bedeutet "ungeteilt" oder "unteilbar" [36]. Nach innen stellt die so bezeichnete Person ein unteilbares Ganzes dar, nach außen eine Einheit gegenüber allen anderen Dingen. Sie ist nicht etwas Zusammengesetztes, ein Konglomerat - sie stellt die Einheit mit sich selbst dar, die Einzelperson.
Nietzsche bestimmt das Individuum stark dadurch, inwieweit eine Reflexion und dann gegebenenfalls eine Loslösung von der vorherrschenden, schlicht übernommenen Moral gelingt und ein Vertrauen in die Vernunft und die Erfahrung das Vertrauen in das Gefühl ablöst. Was aber macht den Menschen zum Individuum?
Für Nietzsche lautet die Antwort auf diese Frage: der Mensch kann sich nur selbst zum Individuum reifen lassen. Für Nietzsche ist der Mensch also nicht a priori ein Individuum, d.h. er kommt nicht von vorneherein als Individuum zur Welt. Um diesen Zustand des Selbst zu erreichen ist ein arbeitsintensiver und mühevoller Prozess von Nöten. Es gilt, durch eine gründliche Reflexion der Welt mit all ihren Phänomenen und sich selbst eine Überprüfung aller Werte vorzunehmen und dabei dem Prinzip der Vernunft und Erfahrung zu folgen. So kann sich der Mensch stets mehr dem annäheren, was er wirklich ist - im Gegensatz zu seinem Ausgangspunkt: das zu sein, "wozu er von oben her gemacht wird!" [37]
Dieses Gemacht- werden ist nicht unbedingt, es ist möglich, sich diesem zu entziehen und nach der Wahrheit (über sich selbst) zu suchen und auch aktiv an der Entstehung des eigenen Selbst zu arbeiten. Wie Nietzsche in "Jenseits von Gut und Böse" feststellt, ist "der Mensch das noch nicht festgestellte Tier" [38] , das heißt, er ist (theoretisch) lernfähig - seine Herkunft muss nicht seinen Werdegang determinieren, ebensowenig muss dies die herkömmliche Moral. Aber in Wirklichkeit scheint das nur allzu oft der Fall zu sein, so dass eine nähere Analyse der dazu führenden Umstände erforderlich ist.
Nietzsches Vorstellung von Moral
Moral versteht sich als Sittenlehre. Nietzsche definiert Sitte als "die herkömmliche Art zu handeln und abzuschätzen" [39], sie "repräsentiert die Erfahrungen früherer Menschen über das vermeintlich Nützliche und Schädliche" [40] - sie ist somit quasi tradierte Erfahrung und bedarf der ständigen Prüfung im Bezug auf ihre Sinnhaftigkeit, wenn sie den Anspruch auf Gültigkeit bewahren will. Gehorsamkeit gegenüber diesen Sitten zu zeigen umschreibt Nietzsche mit dem Begriff der Sittlichkeit. Die herkömmliche Moral stellt also ein Gehorsam forderndes Konglomerat aus tradierter Erfahrung dar und kann als Sammlung von Lebensregeln und Geboten über das vermeintlich Nützliche und Gute für den Menschen allgemein aufgefasst werden. Aber welchem Zweck soll die Moral dienen?
Das Ziel der Moral soll allgemein bestimmt sein als "die Erhaltung und Förderung der Menschheit" [41] - welches Nietzsche als reinen Willen zur Formel enttarnt. Die grundlegendsten Elemente dieser Formel sind darin eben immer noch unbestimmt, nämlich die Fragen "Erhaltung - worin?" und "Förderung - wohin?" [42], so dass diese Formel den Ansprüchen einer Definition nicht genügen kann. Wie also würde Nietzsche selbst den Zweck der Moral, ihr Ziel beschreiben?
Gewiss leugnet seine Philosophie nicht den grundlegenden Sinn der Moral, "jede Sitte ist besser als keine Sitte" [43] - aber in seinen Werken "wird der Moral das Vertrauen gekündigt" [44]. Auch wenn es auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen mag: Nietzsches gesamte Kritik der Moral selbst geschieht, wie er im Vorwort der Morgenröte erläutert, "aus Moralität" [45], d.h., er versucht aus moralischen Gründen die Moral zu hinterfragen - ein mitunter gefährliches Unterfangen, denn "das Gewissen, der gute Ruf, die Hölle, unter Umständen selbst die Polizei erlaubten und erlauben keine Unbefangenheit; in Gegenwart der Moral soll eben, wie angesichts jeder Autorität, nicht gedacht, noch weniger geredet werden: hier wird - gehorcht!" [46] . Aber was kennzeichnet den Sinn der Moral?
Der Sinn einer Moral sollte nach Nietzsche durch ihren Inhalt und dieser durch die jeweilige Person selbst bestimmt werden - eine herkömmliche Moral, als eine durch eine "höhere Autorität, welcher man gehorcht, nicht weil sie das Nützliche befiehlt, sondern weil sie befiehlt" [47], gesetzte, sollte keinen Anspruch auf allgemeine Gültigkeit geltend machen können. Folglich würde der Sinn eines moralischen Gesetzes vor allem für die es (sich selbst) gebende Person groß sein. Eben dieses ist, was Nietzsche fordert: jeder Mensch soll sich das Moralgesetz selber geben, anstatt es "irgendwoher nehmen oder irgendwo es auffinden oder irgendwoher es sich befehlen" [48] zu lassen. Zu diesem Zwecke ist jedoch ein tieferes Verständnis der Moral erforderlich. Es gilt zu klären, wie und wodurch die Moral in einem Menschen wirkt.
Moral und Gefühl sind eng miteinander verknüpft, zumindest besitzt die Moral die Macht, Gefühle in einem (moralischen) Menschen auszulösen. Nietzsche ist der Auffassung, dass sich Gefühle von einer Generation zur nächsten vererben können, also quasi tradiert werden - die zu diesen Gefühlen gehörigen Gedanken allerdings nicht. So wird in der ersten Filialgeneration der Gedanke, "vorausgesetzt, dass er nicht durch die Erziehung wieder dahintergeschoben wird" [49], vom dazugehörigen Gefühl entkoppelt sein, so dass das Gefühl konstant bleibt, ihm in der Filialgeneration allerdings die Begründung fehlt. Diese Unverhältnismäßigkeit führt Nietzsche zu dem Schluss, dass deshalb Gefühle als defizitär zu betrachten sind. Ihnen zu vertrauen, "das heißt seinem Großvater und seiner Großmutter und deren Großeletern mehr gehorchen als den Göttern, die in uns sind: unserer Vernunft und unserer Erfahrung" [50]. Aus Gesagtem lassen sich nunmehr auch Schlüsse über die Adaption der Moral ziehen.
Der Mensch ist nach Nietzsche weder a priori ein Individuum noch moralisch. Die Moral an sich ist also nichts Ursprüngliches, dem Menschen eigenes, sondern muss zu einem späteren Zeitpunkt ihm zu eigen werden. "Ersichtlich werden moralische Gefühle so übertragen, dass die Kinder bei den Erwachsenen starke Neigungen und Abneigungen gegen bestimmte Handlungen wahrnehmen und dass sie als geborene Affen diese Neigungen und Abneigungen nachmachen" [51] - daraus lässt sich ableiten, dass die Moral tradiert wird, d.h. von Generation zu Generation weitergegeben, bzw. (auf unbewusste Weise) weitergelehrt wird. Die Erziehung im weitesten Sinne hat also fundamentale Auswirkungen auf die Aneignung dessen, was später als Moral bezeichnet werden würde. In den seltensten Fällen nur wird eine einmal inkorporierte Moral rückwirkend noch einmal auf deren Begründbarkeit überprüft - meist wird sie ohne Rückfragen als die eigene Moral mißverstanden. Es scheint naheliegend, ein wechselseitiges Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Moral zu vermuten. Doch wodurch kommt es zu Stande?
Wechselwirkungen zwischen Individuum und Moral
Der Einfluss der Moral auf das Leben kann kaum überschätzt werden, denn in praktisch jedem Gedanken und Gefühl ist sie als bewusste oder unbewusste Wertschätzung vorhanden; der Mensch hat "allem, was da ist, eine Beziehung zur Moral beigelegt und der Welt eine ethische Bedeutung über die Schulter gehängt" [52]. Die Beziehung zwischen Moral und ihren Objekten ist also keine natürliche - es handelt sich um ein synthetisches und erdachtes Konstrukt, dass dem Menschen a posteriori als seine zweite Natur anerzogen wird. Diese Natur ist es, die der Mensch für die seinige hält: hat er sie erworben, so ist er in den "Augen der Welt" brauchbar und mündig geworden und er fühlt sich so, weil er sich mit dem Blick, aus der Perspektive der Anderen sieht. Seine erste Natur jedoch, diese, die ihm wirklich zu eigen ist, ist ihm eine unbekannte. "Einige wenige sind Schlangen genug, um diese Haut eines Tages abzustoßen: dann, wenn unter ihrer Hülle ihre erste Natur reif geworden ist. Bei den meisten vertrocknet der Keim davon" [53] und mit ihm die Chance, sich selber kennen zu lernen, sich zu entwickeln und dem Individuum näher zu kommen.
Die herkömmliche Moral als Konglomerat tradierter Wertschätzungen steht also im Gegensatz zum Individuum: ihre Wertschätzungen "sind in Wirklichkeit gegen die Individuen gerichtet und wollen durchaus nicht deren Glück" [54], sie sind ein synthetisches und nichtindividuelles Produkt der Erfahrungen früherer Menschen und steuern die Gefühle des Menschen in nicht zu unterschätzender Weise.
Nachdem nun sowohl die Charakteristika des christlichen Glaubens als auch die Grundlagen von Nietzsches Begriff von Moral und Individuum erläutert worden sind, ist nun eine Untersuchung der Frage nach der Vereinbarkeit von christlichem Glauben und der Bejahung des Lebens möglich.
Christlicher Glaube und bejahtes Leben?
Es stellt sich nun die Frage, ob diese beiden Umstände, der christliche Glaube und die Bejahung des Lebens Nietzsches Theorien zu Folge gleichzeitig und widerspruchsfrei in einem Wesen existent sein können. Welche Argumente führt Nietzsche ins Feld, um eine Begründung seiner Thesen zu geben?
Wie Nietzsche in seinem Urteilsspruch im letzten Aphorismus des Antichristen bekannt gibt, ist seinen Untersuchungen nach das Christentum als "gegen das Leben selbst" [55] gerichtet zu charakterisieren. Es stellte eine "unterirdische Verschwörung" dar, "gegen Gesundheit, Schönheit, Wohlgeratenheit, Tapferkeit, Geist, Güte der Seele, gegen das Leben selbst" [56]. Was aber ist nach Nietzsche das Leben , was bedeutet es, dieses zu bejahen und welche Rolle kommt in diesem Zusammenhang der Moral zu?
Was bedeutet Leben?
"Leben selbst ist wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung eigener Formen, Einverleibung und mindestens, mildestens, Ausbeutung" [57] schreibt Nietzsche in "Jenseits von Gut und Böse". Seine Theorie erinnert an Darwins Theorie des survival of the fittest, des Überlebens des Stärkeren, bzw. Fähigeren. "Was mich nicht umbringt, macht mich stärker" [58] und damit mächtiger. Eben dies ist es, was Nietzsche als das Charakteristikum des Lebens erkennt: den Willen zur Macht. Das Leben selbst sei der Wille zur Macht [59], einer Macht über sich selbst, aber auch über andere. Die von den zivilisierten Nationen als primitiv eingestuften Triebe des Menschen, eben jene, die Nietzsche als dem Leben wesentlich zukommende beschreibt, sind für ihn "Wesen des Lebendigen" [60]. Aber diese Verhaltensweisen sind essentiell für das Leben an sich -sie ermöglichen Wachstum und Fortschritt jedes Lebewesens. Insofern kann der Wille zur Macht, bzw. das Leben, als Motor der Veränderung angesehen werden, der stetig auf ein Mehr an Kraft und Macht hinwirkt ein Wirken des Lebens, dass "steigend sich [zu] überwinden" [61] versucht.
Nietzsches Vorstellung vom Leben ist also eine sehr positive. Das Leben will wachsen, will gedeihen und stetig mehr erreichen. Der Wille zur Macht dient hierzu als Mittel. Das Leben zu bejahen bedeutet, sich eben dieses bewusst zu machen und nach mehr Macht zu streben, weiter zu wachsen, seinen Instinkten zu vertrauen - seiner Natur zu entsprechen, anstatt sie durch gegen die Natürlichkeit gerichtete Moral entarten zu lassen.
Der Wille zur Macht ist es, den die herkömmliche bzw. christliche Moral mit ihren Geboten zu hemmen versucht. Die Moral ist somit nicht die Verneinung des Lebens, sondern das Mittel dazu. Durch sie inkorporieren die Menschen die Urteile, die gegen das Leben gerichtet sind - gegen ihr eigenes Leben und das Leben an sich. "Das Leben ist zu Ende, wo das 'Reich Gottes' anfängt" [62]. Da somit die Moral auch im Falle des Christentums als Mittel gegen den Willen zur Macht, als Mittel gegen das Leben anzusehen ist, bedarf sie näherer Analyse
- besonders im Hinblick auf ihre Konsequenzen das Individuum betreffend. Was sind die Hintergedanken und Wirkungen der christlichen Moral?
Konsequenzen des christlichen Glaubens
Das Christentum hat es nötig gehabt, das Bild eines starken Gottes, der Ausdruck der guten Bedingungen und eigenen Stärke eines Volkes ist, gegen das eines Guten Gottes zu vertauschen [63]. Dieser Gott, als reiner Gott des Guten und der Liebe, ist nicht mehr Representant der Natur des Menschen, er dient nicht mehr dem Zweck, dass ein Volk "seine Lust an sich, sein Machtgefühl in ein Wesen, dem man dafür danken kann" [64] projizieren kann. Die Ambivalenz der menschlichen Natur ist in ihm, dem guten Gott, nicht mehr auffindbar, eben weil die Seite des "Bösen" in ihm per definitionem fehlt. Es erscheint folgerichtig anzunehmen, dass daraus auch eine neurotische Spaltung der Psyche des Gläubigen resultiert: die moralischen Vorschriften eines Gottes sind auch im Rahmen von Annahmen über die Natur des Menschen an sich zu verstehen und stellen zudem die Maßstäbe auf, an denen sich die Menschen im Sinne eines "Sound-so-sein-sollens" messen können. Dieses sich-selbst-daran-messen, als Ausdruck des Versuchs, gottgefällig zu leben, führt nun bei einem alleinig guten Gott zu einer Abspaltung eines Teils der Natürlichkeit in den Menschen, zur Neurose, dem nicht-mehr-eins-mit-sich-selbst-sein. Was seit längerem durch die psychologische Forschung und Praxis belegt wurde, hat auch Nietzsche intuitiv bereits gewusst: eine Spaltung wie die diese macht den Menschen krank - sie entartet ihn und entzweit ihn mit sich selbst. Es bleibt zu erwähnen, dass Nietzsche Aussagen über die Natur des Menschen und die Art, wie er sein soll, generell verurteilt - "die Menschen sind nicht gleich" [65] und es steckt Naivität darin, "zu sagen, 'so und so sollte der Mensch sein!' Die Wirklichkeit zeigt uns einen entzückenden Reichtum der Typen [...]: und irgendein armseliger Eckensteher von Moralist sagt dazu: 'nein! Der Mensch sollte anders sein?'" [66]. Ein Mensch, der sich an von außen herangetragene Vorschriften über die Art und Weise, wie er zu sein hat, hält, entfernt sich stetig weiter von seiner Natürlichkeit, von seinen Instinkten, letztendlich vom Leben selbst, wie Nietzsche es versteht.
Besonders fatal werden die Auswirkung dann, wenn "alle Werte, in denen jetzt die Menschheit ihre oberste Wünschbarkeit zusammenfasst, decadence-Werte sind" [67], Werte also, die der Entartung des Menschen dienen und an die Menschen als Forderungen herangetragen werden, die eine permanente Bekräftigung durch Mitmenschen, Kirche und Gesellschaft erfahren. Das Leitbild für ein gelungenes Sein ist nunmehr ein widernatürliches geworden, es zwingt den Menschen zur Verdrängung eines Teils seiner Selbst, hemmt sein Wachstum, den Willen zu Macht und hält ihn mit den gesetzten moralischen Werten davon ab, sich mit sich selbst zu beschäftigen und sein Vertrauen auf die Götter zu setzen, "die in uns sind: unserer Vernunft und unserer Erfahrung" [68]. Die Pervertierung der Wahrheit, besonders die Realität der Natur des Menschen betreffend, war das Mittel der Priester, als Vertreter Gottes auf Erden, diesen Zustand zu erschaffen und ist es noch, um ihn zu erhalten. Im Glauben an die Rechtmäßigkeit dieser gesetzten Werte ist es dem gläubigen Menschen nicht möglich, sich aus diesem Geflecht von Lügen zu befreien, z.B. dadurch, dass er durch eine Beschäftigung mit der Wissenschaft das wirkliche kausale Gefüge von Ursache und Wirkung wiederentdeckt. Der so geprägte Mensch ist kein starker Mensch mehr, er ist "das Haustier, das Herdentier, der kranke Mensch - der Christ" [69] - er ist verdorben, d.h. er hat seine Instinkte verloren und zieht somit das vor, was ihm nachteilig ist [70]. Da er an diese Werte glaubend seine Natur verleugnet, seine Instinkte nicht mehr nutzen kann, wird ihm nicht bewusst, was für Werte und moralische Vorschriften es sind, denen er blind, d.h. ohne Recht auf Hinterfragung, folgen soll. Nietzsche erkennt und klassifiziert diese Werte als nihilistisch, d.h. es sind verneinende Werte. Sie dienen denen, die von der Natur benachteiligt sind, als Mittel zur Macht über die Stärkeren. Es ist der Priester, der durch diese Werte "das Schwergewicht des Lebens nicht ins Leben, sondern ins 'Jenseits' verlegt -ins Nichts" [71] und dem Leben des Gläubigen damit überhaupt sein Schwergewicht nimmt, ihn davon abbringt, Fortschritte in seinem Leben zu machen und sich zu entwickeln. Das Leben erhält keinen großartigen Stellenwert mehr beigemessen - es ist das Jenseits, das nun zählt - "So zu leben, dass es keinen Sinn mehr hat zu leben, das wird jetzt zum Sinn des Lebens" [72]. Im Christentum ist nichts mehr von der einstigen Stärke des Menschen zu erkennen, seine Werte sind widernatürlich, nihilistisch und gegen das Leben gerichtet, die Erkenntnis des Menschen ist moralisch verboten und der Schwerpunkt des Lebens ist ins Nichts verschoben. "Nihilist und Christ: das reimt sich, das reimt sich nicht bloß..." [73].
"Überzeugungen sind Gefängnisse" [74] - Gefängnisse für den Geist, die Erkenntnis ermöglichende Instanz. "Der Mensch des Glaubens, der 'Gläubige' jeder Art ist notwendig ein abhängiger Mensch" [75] - abhängig, besonders im Sinne seiner Wertschätzungen, seiner Moral. Er bedarf des Diktats all dessen, was er durch Reflexion eben nicht an und durch sich erfahren hat. Als "Herdentier" [76] ist er sich selbst unbekannt und bedarf der Mitteilung seiner Identität durch andere [77], durch die Mitmenschen, durch einen Gott, durch die Kirche. Er kann der erlogenen und falschen Welt des Christentums kein ergründetes Selbst, keine eigene Moral entgegenstellen. Daher hat er quasi keine eigene Moral, seine Moral ist eine rein adaptierte, die er Kraft moralischer Gebote nicht hinterfragen soll. Der Christ soll glauben und nicht wissen - alleine die zur Erkenntnis notwendige Skepsis, der Zweifel, ist bereits durch die christliche Moral zur Sünde erhoben worden - ein Mechanismus, der das Christentum gegenüber der Wahrheit weiter abschotten soll. "Die Freiheit von jeder Art Überzeugung gehört zur Stärke, das Frei-Blicken-können" [78] ist eben das, was Christen nicht können sollen, ihr Glaube "selbst [ist] ein Ausdruck von Entselbstung, von Selbst-Entfremdung" [79] - der Gläubige ist kein suchender Mensch, der redlich an der Entdeckung und Erkenntnis seiner Natur, seines Selbst, seines Glücks arbeitet: er glaubt an das, was andere ihm mitteilen, sei es Individualismus, Wahrheit, Moral, Sinn des Lebens, Fortschritt. Anstatt sein Selbst zu ergründen, lässt er sich eines durch die Moral mitteilen und glaubt, anstatt nach Wissen zu suchen. Diese Entselbstung ist alleine schon daher schlüssig, weil es nicht möglich ist, eine christliche Moral, eine herkömmliche Moral, eine Moral von außen ohne Reflexion anzunehmen, ohne eine Schwächung des eigenen Selbst zu erfahren.
Der gläubige Mensch ist also ein abhängiger Mensch. Er selbst kann sich nicht als Zweck begreifen, kann nur Mittel zum Zwecke anderer sein [80] - er strebt nicht nach Macht, er ist Mittel zur Macht anderer. In Bezug auf das Christentum ließe sich daraus also schließen, dass die Gläubigen lediglich Mittel zum Zweck der Priesterschaft sind, welche eigene Ziele durch ihre Gläubigen verwirklichen will. Wie bereits im Vorfeld erwähnt ist es eben dies, was dem Christentum eigentümlich ist: die Herrschaft der Priester über die Masse der Gläubigen zum Zweck ihres eigenen Vorteils. Deshalb sind die Gläubigen abhängig vom Priester (gemacht worden), von seinen fiktiven Gottesmitteilungen und in besonderem Maße von seiner Heilsversprechung und Sündenvergebung. Da dies alles ein System aus Lügen darstellt, ist es die Intention der Personifikationen des Christentums, eigene Interessen und Machtgelüste [81] auf Kosten der Gläubigen durchzusetzen, diese schwach, unwissend, abhängig zu halten, die Wahrheit durch ihre Moral vor den Augen der Menschen zu verbergen und selbst die Vernunft der starken Exemplare der menschlichen Rasse zu unterwandern - "krank-machen ist die eigentliche Hinterabsicht des ganzen Heilsprozeduren - Systems der Kirche" [82], das Christentum erhält seine Autorität durch das Vortäuschen einer falschen Wirklichkeit, eines erfundenen und widernatürlichen Begriffs von der Natur des Menschen.
Es lässt sich aus gesagtem schließen, dass die Frage nach der Vereinbarkeit von christlichem Glauben und bejahtem Leben nach Nietzsche eindeutig zu verneinen ist. Das Christentum bedient sich der Moral als Mittel der Machtausübung über seine Gläubigen, hemmt ihre (Selbst-) Erkenntnis und führt sie auf diesem Wege zur Verneinung des Lebens - es hat eine Welt erschaffen, "wo uns jene Lebens-Bejahung als das Böse, als das Verwerfliche an sich erschien" [83] - die Konjunktion der beiden Begriffe schließt sich also aus, ist logisch betrachtet falsch. Der Umkehrschluss ist allerdings ebenso falsch: kein Christ zu sein bedeutet nicht automatisch, dass man sein Leben bejaht - es ist allerdings nach Nietzsche als eine seiner Voraussetzungen anzusehen.
Zusammenfassung
Das Christentum ist nach Nietzsche der eine Schandfleck der Menschheit - es ist zu charakterisieren durch die Fälschung aller Natur und das Aufstellen und Proklamieren einer widernatürlichen Kausalität. Die Priesterschaft als Personifikation des Christentums verfolgt eigene Interessen und bedient sich verschiedener moralischer Mittel, um ihre Macht über die Gläubigen auszuüben. So wird beispielsweise durch die Annahme eines freien Willens in Verbindung mit dem Begriff der Sünde ein Gefüge geschaffen, das den Priester unentbehrlich für die Gläubigen macht, weil er die einzige Instanz der Vergebung von Sünde ist.
Der scheinbare Wille eines Gottes wurde durch die heilige Schrift offenbart, die Nietzsche zu Folge nur ein Mittel der Priester war und ist, um ihren eigenen Willen als den eines Gottes auszugeben und die Gläubigen zu ihrem eigenen Vorteil an diesen zu binden. Die vom Christentum proklamierten Werturteile sind letzten Endes alle als falsch und gegen die Realität gerichtet zu verstehen - sie vermitteln ein falsches Bild über die Natur des Menschen und stellen falsche Forderungen an die Art, wie der Mensch sein soll.
Nietzsches Moralphilosophie ist nicht gegen die Moral an sich gerichtet, sondern gegen die herkömmliche, aus der Perspektive des Menschen von außen kommende Moral - diese hat keine Reflexion durch den Betreffenden erfahren und stellt somit lediglich eine tradierte Erfahrung über das von den Vorfahren für gut und schlecht befundene dar. Eine Moral jedoch, die nicht gegen das Individuum, also die sich selbst bekannte Einzelperson, gerichtet ist, bedarf der vorherigen Reflexion und Überprüfung auf deren zeitgemäße Begründbarkeit, will sie nicht eine das Leben behindernde sein. Eine mögliche Begründung für die Schwierigkeit der Veränderung von Moral liegt in dem Zusammenhang zwischen Moral und Gefühl begründet - als Auslöser von emotionalen Reaktionen ist die Moral in der Lage, verschiedenste Gefühle zu induzieren, die den Menschen bei ihrer Veränderung behindern können.
Das Leben ist für Nietzsche ein sehr positiver Begriff, der gekennzeichnet ist durch ein inniges Verhältnis zum Willen zur Macht. Das Leben selbst sei dieser Wille zur Macht und diene dem Zweck, stetig mehr zu wachsen, sich selbst zu überwinden und ein Mehr an Kraft an sich zu binden. Der Wille zur Macht versteht sich somit nicht nur als Wille der Macht über sich selbst, sondern auch als Wille zur Macht über andere Menschen. Eben hierin sieht Nietzsche sich auch durch die Geschichte der Menschheit bestätigt und sieht die Natur des Menschen hierin gefunden. Zudem sollen die Menschen voneinander sehr verschieden sein, so dass die Forderungen nach der Gleichheit der Menschen für Nietzsche unberechtigt sind - sie sind nicht gleich und sollen in Folge dessen auch nicht dazu gemacht werden, weil diese nicht ihrer Natürlichkeit entspricht. Sein Leben zu bejahen bedeutet somit, nach seinen natürlichen Vorgaben zu leben und dem Willen zur Macht zu folgen, seinen Instinkten, der Erfahrung und der Vernunft zu vertrauen.
Das Christentum jedoch fördert und fordert den Menschen in einer anderen Hinsicht: es macht ihn sich untertan und entnatürlicht, verdirbt ihn, übt mit Hilfe der Moral Macht über ihn aus und zwingt ihn zur Verneinung des Lebens. Der Christ spaltet wichtige Teile seiner Natürlichkeit von seiner Person ab und führt ein widernatürliches, unwissendes, entselbstetes und abhängiges Leben. Die unreflektierte Moral zwingt ihn in eine unnatürliche Existenz, in der er widernatürliche Ursache-Wirkung-Zusammenhänge und die Strafe Gottes zu fürchten hat - alles mit dem Ziel, das Schwergewicht des Lebens ins Jenseits, das Nichts, zu verschieben.
Abschließende Bemerkungen
Nietzsches Konzeption von Moral und Individuum sowie das komplexe Gefüge ihrer Wechselwirkungen ist meiner Meinung nach mehr als schlüssig und logisch aufgebaut. Es ist verständlich, dass die Kritik der Moral aus moralischen Gründen geschieht und auch die Gesamtkonzeption des Willens zur Macht scheint mir - in Teilen - plausibel.
Als Kritikpunkt stellt sich mir allerdings die Frage, ob es denn wirklich im Interesse der Einzelperson sein kann, Macht über andere zu maximieren. Aus einer reflektierten Moral heraus erscheint mir dieser Punkt durchaus fragwürdig: sicherlich ist es so, wie Nietzsche es schreibt, dass dieses der der menschlichen Geschichte zugrundeliegende Mechanismus ist - ob dieser deshalb allerdings auch der anzustrebende sein muss? Zu leben bedeutet zwangsläufig auch auf Kosten anderer zu leben, aber im Bewusstsein dessen scheint es mir sinnvoller, es als gegeben zu akzeptieren und eigene Schlüsse daraus zu ziehen. Keine Schlüsse, die diesen Umstand verneinen sollen, aber Schlüsse, die einen bedachten Umgang mit diesem Machtstreben ermöglichen und dem Menschen die abwägende Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten einräumen.
Nach den vorliegenden Ergebnissen stellt sich mir weiterhin die Frage, ob das Christentum nunmehr als "Schandfleck" zu betrachten ist oder nicht. Nach aller Abwägung kann ich mich nur Nietzsches Urteil anschließen und das Christentum als eben diesen bezeichnen. Es scheint mir geradezu lächerlich, dass und vor allem wie viele Menschen noch bereit sind, ihr Leben einem Gottesglauben zu unterwerfen und dass z.B. der Papst heute noch ganze Städte mit seiner alleinigen Präsenz zu füllen weiß. Eine Lächerlichkeit jedoch, die der Bitterkeit nicht entbehrt! Sind es doch im westlichen Kulturkreis gerade die Werte des Christentums, die "unterirdisch" auch die Werte von Staat und Gesellschaft forcieren und somit die Lebenswelt aller in einem unzulässigen Maße beeinträchtigen, sie ihrer Natürlichkeit berauben. Die Manipulationen und Unstimmigkeiten des Christentums sollten (theoretisch) für jeden zu durchschauen sein - wahrscheinlich müssten sie es sogar sein. "Trotzdem bleibt alles beim alten" [84] schreibt Nietzsche vor etwa 110 Jahren - und auch heute sehe ich diese Beobachtung noch immer bestätigt.
In diesem Sinne möchte ich mit einem Zitat aus Aphorismus 501 der Morgenröte schließen: "Wir haben den guten Mut zum Irren, Versuchen, Vorläufig - nehmen wieder erobert - es ist alles nicht so wichtig! - und gerade deshalb können Individuen und Geschlechter jetzt Aufgaben von einer Großartigkeit ins Auge fassen, welche frühere Zeiten als Wahnsinn und Spiel mit Himmel und Hölle erschienen sein würden. Wir dürfen mit uns selbst experimentieren!" [85]
Anhang: Verneinung? Bejahung! - Eckpfeiler eines möglichen eigenen Weges
Wie also sollte der Mensch zu einer Bejahung des Lebens kommen? Wie sollte das Selbst gestärkt und das Individuum vorangetrieben werden? Auf welche Weise könnte ein eigener Weg aufgetan und gangbar gemacht werden?
Im Gegensatz zu der herkömmlichen Moral ist die reflektierte Moral nicht gegen das Individuum gerichtet. Sie kommt zwar vielleicht auch von außen, ist aber auf ihre Rechtmäßigkeit, d.h. auf ihre Begründbarkeit geprüft worden. Sie ist somit nicht mehr Ausdruck von reiner Tradition und Überlieferung - der Aspekt der Reflexion kommt hinzu und ermöglicht es dem werdenden Individuum abzuwägen, welche moralischen Vorschriften und Werturteile einen Anspruch haben, noch als zeitgemäß und dem Leben zuträglich zu gelten. Als Maßstab der Bewertung dienen zu diesem Zweck abermals die bereits angesprochenen "Götter, die in uns sind" [86], die Vernunft und die Erfahrung.
Da die Moral eine innige Beziehung zu den Gefühlen hat, genauer gesagt, die Macht besitzt, Gefühle in uns auszulösen und die Gefühle von moralischen Urteilen ausgehen, schließt Nietzsche, "einstweilen müssen dem wisschenschaftlichen Menschen", also dem Menschen, der auf der Suche nach der Wahrheit und dem Zusammenhang von Ursache und Wirkung ist, "alle höheren Gefühle verdächtig sein, so sehr sind sie mit Wahn und Unsinn verquickt" - deshalb weil es gilt, eine (noch) aktive herkömmliche Moral zu reflektieren, die noch befähigt ist, die Gefühle des Reflektierenden zu beeinträchtigen und zu verwirren. Auf Grund der enormen Schwierigkeit und der Brisanz der durchzuführenden Umwertung rät Nietzsche: "So sollen wir uns hüten, den Zustand der Moral, an den wir gewöht sind, mit einer neuen Wertschätzung der Dinge Hals über Kopf und unter Gewaltsamkeit zu vertauschen - nein, wir wollen in ihm noch lange, lange fortleben bis wir, sehr spät vermutlich, inne werden, dass die neue Wertschätzung in uns zur überwiegenden Gewalt geworden ist und dass die kleinen Dosen derselben, an die wir uns von jetzt ab gewöhnen müssen, eine neue Natur ins uns gelebt haben" [87]. Diese, heutzutage auch in der Verhaltenstherapie zur Anwendung kommende Vorgehensweise ermöglicht den langsamen, behutsamen und dennoch fortlaufenden Wechsel zwischen alter, herkömmlicher und neuer, eigener Moral auf eine Weise, die sehr wahrscheinlich die höchsten Erfolgschancen bieten kann, eben weil sie die drohende emotionale Belastung eines solchen Wechsels ohne Schmählerung des Ergebnisses zu lindern weiss.
Für das werdende Individuum wird es somit zur Pflicht, sich von all dem loszulösen, was auf illegitime Weise versucht, von außen her Einfluss auf das Innere zu nehmen. Ein Abschied von jeglicher Art des Glaubens und eine Hinwendung zur Wissenschaft im weitesten Sinne ist erforderlich: nicht das Glauben an eine offenbarte Wahrheit, sondern die eigene Ergründung der Realität und seiner eigenen Natur ist das Ziel. Aus dem Konglomerat von herkömmlicher Moral, fremder Wertschätzung und gesetzter Wahrheit soll die Einzelperson reifen - durch die Loslösung von allem Gelernten - nicht um dieses alles blind zu verwerfen, sondern um es mit Hilfe der Vernunft auf seine Begründbarkeit zu untersuchen und dann begründet anzunehmen oder zu verwerfen. "Wenn man sich selbst nicht feststellen kann, so kommt es darauf an, wie man mit sich umgeht" [88]. Der Mensch muss den sicheren Weg der Masse verlassen und sich auf den einsamen eigenen Weg begeben, mit der Bereitschaft, sich selbst als Experient zu verstehen, "Wir sind Experimente: wollen wir es auch sein!" [89]. Der Mensch als "das noch nicht festgestellte Tier" [90] ist abhängig davon, was er lernt - er ist notwendig ein Konstrukt, es kommt nur darauf an, wer der Konstrukteur ist! Was er lernt, bestimmt in einem gewissen Maße, was er ist. Im Sinne eines werdenden Individuums soll es eben der betreffende Mensch selbst sein, der lernen muss, sich selbst zu konstruieren und so dem Zustand der Einzelperson näher zu kommen. "Wir haben umzulernen - um endlich, vielleicht sehr spät, noch mehr zu erreichen: umzufühlen" [91]. Das Gefühl ist "langsamer" als der Verstand: wie auch in der modernen Verhaltenstherapie bekannt, dauert es seine Zeit, bis das Fühlen sich den geistigen Veränderungen angleicht und der zwischenzeitliche Zustand der emotionalen Verwirrung zwischen alter und neuer Moral der Normalität weichen kann
Dies alles setzt allerdings voraus, dass der Mensch sich keine falschen Vorstellungen von seiner eigenen Natur macht (machen lässt). So wird unter anderem der Abschied von einer besonders schmeichelhaften Illusion notwendig, denn der Mensch "ist durchaus keine Krone der Schöpfung, jedes Wesen ist, neben ihm, auf einer gleichen Stufe der Vollkommenheit" [92]. Er muss lernen, was das Mensch-Sein bedeutet, was die ihm zugrundeliegende Struktur ist. Die Ambivalenz als unumgänglicher Teil des Lebens hat ihre Akzeptanz zu erfahren, will der Mensch nicht wieder zurückfallen in die Verneinung seiner Existenz und die Spaltung. Das Leben als Ganzes soll (wieder) bejaht werden können, der Mensch soll den Willen zur Macht, den Willen zur Macht über sich selbst, aufgreifen und seine Stärke kennenlernen und nutzen - sich wirklich fortentwickeln, das Vertrauen in seinen Instinkt finden und sich von der Herrschaft der nihilistischen Werte befreien. Auf diesem Weg, dem eigenen Weg, wird es einsam sein: "Wer auf solchen eigenen Wegen geht, begegnet niemandem: das bringen die eigenen Wege mit sich" [93], allerdings bieten sie dem Menschen die Chance, der "Irrenhaus-Welt ganzer Jahrtausende" [94] (absolute) Herrschaftsgewalt über sich zu entziehen und die zu einem höheren, freieren Existenzniveau zu gelangen. "Die Schlange, welche sich nicht häuten kann, geht zugrunde. Ebenso die Geister, welche man verhindert, ihre Meinungen zu wechseln; sie hören auf, Geist zu sein" [95].
Literatur
- Nietzsche, Friedrich: "Morgenröte". Gedanken über die moralischen Vorurteile. Goldmann: 1999.
- Nietzsche, Friedrich: "Der Antichrist". Versuch einer Kritik des Christentums. Insel Taschenbuch: Frankfurt am Main, 1986.
- Nietzsche, Friedrich: "Jenseits von Gut und Böse". Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. "Zur Genealogie der Moral". Eine Streitschrift. Kritische Studienausgabe. Deutscher Taschenbuch Verlag / Walter de Gruyter: München, Berlin / New York, 1993.
- Nietzsche, Friedrich: "Götzendämmerung". Wie man mit dem Hammer philosophiert. Insel Taschenbuch: Frankfurt am Main, 1985.
- Nietzsche, Friedrich: "Menschliches - Allzumenschliches". Ein Buch für freie Geister. "Also sprach Zarathustra". Ein Buch für Alle und Keinen. "Jenseits von Gut und Böse". Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. Hauptwerke in einem Band. Parkland: Köln, 1999.
- Safranksi, Rüdiger: "Nietzsche". Biographie seines Denkens. Hanser: München, Wien, 2000.
- Hügli, Anton, Poul Lübcke: "Philosophie Lexikon". Personen und Begriffe der abendländischen Philosophie von der Antike bis zur Gegenwart. Rowohlt: Reinbek, 2001.
- "Die Bibel". Einheitsübersetzung Altes und Neues Testament. Herder: Freiburg, Basel, Wien, 2001.
Fußnoten
- "Der Antichrist", Aphorismus 8, Seite 18
- Vgl. R. Safranski, "Nietzsche - Biographie seines Denkens", Chronik, Seite 368
- "Der Antichrist", Aphorismus 62, Seite 125
- "Der Antichrist", Aphorismus 62, Seite 124
- "Der Antichrist", Aphorismus 62, Seite 125
- "Der Antichrist", Aphorismus 24, Seite 42
- "Der Antichrist", Aphorismus 24, Seite 42
- "Der Antichrist", Aphorismus 25, Seite 45
- "Der Antichrist", Aphorismus 25, Seite 45
- "Der Antichrist", Aphorismus 26, Seite 47
- "Der Antichrist", Aphorismus 25, Seite 46
- "Der Antichrist", Aphorismus 27, Seite 50
- "Der Antichrist", Aphorismus 15, Seite 28
- "Der Antichrist", Aphorismus 9, Seite 20
- Vgl. Aristoteles, "Metaphysik", Buch A, 1 b (981a)
- "Der Antichrist", Aphorismus 49, Seite 91
- "Der Antichrist", Aphorismus 26, Seite 48
- "Der Antichrist", Aphorismus 26, Seite 48
- "Der Antichrist", Aphorismus 26, Seite 49: "der Priester allein erlöst..." ff.
- "Der Antichrist", Aphorismus 26, Seite 49
- "Götzendämmerung", Die vier grossen Irrtümer, Aphorismus 7, Irrtum vom freien Willen, Seite 47
- "Morgenröte", Aphorismus 58, Das Christentum und die Affekte, Seite 50
- "Der Antichrist", Aphorismus 52, Seite 98
- "Die Bibel", Neues Testament, Mt 5, 44-46: "Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne des Himmels werdet, [...] Wenn ihr nämlich nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr dafür erwarten?" und: "Die Bibel" , Neues Testament, Lk 6, 27,29,32: "Liebt eure Feinde; tut denen Gutes, die euch hassen [...] Dem, der dich auf die eine Wange schlägt, halt auch die andere hin, [...] Wenn ihr nur die liebt, die euch lieben, welchen Dank erwartet ihr dafür? Auch die Sünder lieben die, von denen sie geliebt werden."
- "Der Antichrist", Aphorismus 29, Seite 53
- "Der Antichrist", Aphorismus 30, Seite 55
- "Der Antichrist", Aphorismus 23, Seite 41
- "Der Antichrist", Aphorismus 7, Seite 16
- "Der Antichrist", Aphorismus 7, Seite 16
- "Der Antichrist", Aphorismus 7, Seite 17
- "Der Antichrist", Aphorismus 7, Seite 16/17
- Vgl. "Morgenröte", Aphorismus 89, Zweifel als Sünde, Seite 72: "Das Christentum hat das Äußerste getan, um den Zirkel zu schließen, und schon den Zweifel für Sünde erklärt."
- Vgl. "Morgenröte", Aphorismus 72, Das "Nach-dem-Tode" , Seite 60ff.
- Vgl. "Der Antichrist", Aphorismus 23, Seite 39 ff.
- "Morgenröte", Vorrede, Aphorismus 4, Seite 11
- Hügli, Anton, Poul Lübcke, "Philosophie Lexikon", Seite 315, Individuum
- "Morgenröte", Aphorismus 166, Am Scheidewege, Seite 130
- "Jenseits von Gut und Böse" , Aphorismus 62, Seite 81
- "Morgenröte", Aphorismus 9, Begriff der Sittlichkeit der Sitte, Seite 16
- "Morgenröte", Aphorismus 19, Sittlichkeit und Verdummung, Seite 19
- "Morgenröte", Aphorismus 106, Gegen die Definitionen der moralischen Ziele, Seite 82
- "Morgenröte", Aphorismus 106, Gegen die Definitionen der moralischen Ziele, Seite 82
- "Morgenröte", Aphorismus 16, Erster Satz der Zivilisation, Seite 23
- "Morgenröte", Vorrede, Aphorismus 4, Seite 11
- "Morgenröte", Vorrede, Aphorismus 4, Seite 11
- "Morgenröte", Vorrede, Aphorismus 3, Seite 8
- "Morgenröte", Aphorismus 9, Begriff der Sittlichkeit der Sitte, Seite 16
- "Morgenröte", Aphorismus 108, Einige Thesen, Seite 84
- "Morgenröte", Aphorismus 30, Die verfeinerte Grausamkeit der Tugend, Seite 33
- "Morgenröte", Aphorismus 35, Gefühle und deren Abkunft von Urteilen, Seite 33
- "Morgenröte", Aphorismus 34, Moralische Gefühle und moralische Begriffe, Seite 35
- "Morgenröte", Aphorismus 3, Alles hat seine Zeit, Seite 14
- "Morgenröte", Aphorismus 455, Die erste Natur, Seite 250
- "Morgenröte", Aphorismus 108, Einige Thesen, Seite 84
- "Der Antichrist", Aphorismus 62, Seite 125
- "Der Antichrist", Aphorismus 62, Seite 125
- "Jenseits von Gut und Böse", Aphorismus 259, Seite 207
- "Götzendämmerung", Sprüche und Pfeile, Aphorismus 8, Aus der Kriegsschule des Lebens, Seite 11
- "Jenseits von Gut und Böse", Aphorismus 259, Seite 208
- "Jenseits von Gut und Böse", Aphorismus 259, Seite 208
- "Also sprach Zarathustra", Von den Taranteln, Seite 528
- "Götzendämmerung", Moral als Widernatur, Aphorismus 4, Seite 36
- Vgl. "Der Antichrist", Aphorismus 16, Seite 29
- "Der Antichrist", Aphorismus 16, Seite 29
- "Also sprach Zarathustra", Von den Taranteln, Seite 527
- "Götzendämmerung", Moral als Widernatur, Aphorismus 6, Seite 37
- "Der Antichrist", Aphorismus 6, Seite 15
- "Morgenröte", Aphorismus 35, Gefühle und deren Abkunft von Urteilen, Seite 35
- "Der Antichrist", Aphorismus 3, Seite 13
- "Der Antichrist", Aphorismus 6, Seite 15
- "Der Antichrist", Aphorismus 43, Seite 76
- "Der Antichrist", Aphorismus 43, Seite 76
- "Der Antichrist", Aphorismus 58, Seite 118
- "Der Antichrist", Aphorismus 54, Seite 102
- "Der Antichrist", Aphorismus 54, Seite 102
- "Der Antichrist", Aphorismus 3, Seite 13
- Vgl. "Morgenröte", Aphorismus 105, Der Schein-Egoismus, Seite 81ff.
- "Der Antichrist", Aphorismus 54, Seite 102
- "Der Antichrist", Aphorismus 54, Seite 103
- Vgl. "Der Antichrist", Aphorismus 54, Seite 103
- Vgl. "Morgenröte", Aphorismus 262, Der Dämon der Macht, Seite 188
- "Der Antichrist", Aphorismus 51, Seite 95
- "Der Antichrist", Aphorismus 24, Seite 43
- "Der Antichrist", Aphorismus 38, Seite 68
- "Morgenröte", Aphorismus 501, Sterbliche Seelen!, Seite 269
- "Morgenröte", Aphorismus 35, Gefühle und deren Abkunft von Urteilen, Seite 36
- "Morgenröte", Aphorismus 534, Die kleinen Dosen, Seite 279
- R. Safranski, "Nietzsche - Biographie seines Denkens", Seite 186
- "Morgenröte", Aphorismus 453, Moralisches Interregnum, Seite 250
- "Jenseits von Gut und Böse", Aphorismus 62, Seite 81
- "Morgenröte", Aphorismus 103, Es gibt zwei Arten von Leugnern der Sittlichkeit, Seite 80
- "Der Antichrist", Aphorismus 14, Seite 26
- "Morgenröte", Aphorismus 2, Vorrede, Seite 7ff.
- "Der Antichrist", Aphorismus 38, Seite 67
- "Morgenröte", Aphorismus 673, Sich häuten, Seite 302