Ist nach Nietzsche die Moral dem Individuum entgegengesetzt?
Einleitung
In dieser Hausarbeit wird anhand von Nietzsches "Morgenröte" eine nähere Untersuchung der wechselseitigen Wirkungen zwischen "Moral" und "Individuum" vorgenommen um die Frage zu klären, inwiefern die Moral als dem Individuum entgegengesetzt gelten kann.
Zuerst werden die Begriffe "Individuum" und "Moral" unter Berücksichtigung Nietzsches Sichtweise unabhängig voneinander definiert und mit ihren Voraussetzungen und Randbereichen kurz erläutert. Anschließend werden die Wechselwirkungen zwischen beiden untersucht und zentrale Stellen, hauptsächlich aus Nietzsches "Morgenröte", näher analysiert. Die thematisierte Frage: "Ist nach Nietzsche die Moral dem Individuum entgegengesetzt?" soll daraufhin unter besonderer Berücksichtigung der bisherigen Ergebnisse beantwortet werden.
Im zweiten Kapitel wird erläutert, welchen Begriff sich Nietzsche vom Individuum macht. Nach einer grundlegenden Definition dieses Begriffes werden seine verschiedenen Eigenschaften näher analysiert und mögliche Behinderungen und Gründe für den Weg zu diesem Zustand des Selbst ausgearbeitet. Nietzsches Vorstellung von der Moral ist Thema des dritten Kapitels, in dem eine nähere Untersuchung der Moral im Hinblick auf ihren Zweck und ihre Verbindung zum Gefühl sowie eine Ausarbeitung ihrer verschiedenen "Arten" und Auswirkungen stattfindet. Abschließend wird die herkömmliche Moral normativ bewertet, bevor im nächsten Kapitel die Wechselwirkungen von "Moral" und "Individuum" erläutert werden und ein Vergleich von überprüfter und übernommener Moral, also eine Differenzierung der Moral, vorgenommen wird. Eine Darstellung des kollektiven Individualismus und seiner Auswirkungen sowie eine Analyse weiterer zentraler Thesen ermöglichen eine differenzierte Beantwortung der Frage der Be- oder Verhinderung der "Entstehung" des Individuums durch die Moral, die in Form eines ausführlichen Résümées nach Nietzsche im fünften Kapitel erfolgt. Die wichtigsten Ergebnisse werden im letzten Kapitel, ergänzt durch einige abschließende Bemerkungen und eine kurze eigene Stellungnahme zusammengefaßt.
Nietzsches Begriff des Individuums
Definition: "Individuum"
Nichts scheint schwieriger zu sein, als eine wirkliche Definition dessen zu geben, was der Begriff "Individuum" zu bedeuten hat. Definieren basiert auf dem Erkennen sämtlicher Kennzeichen einer Sache, doch wie soll ein Begriff erklärt werden, dessen Aussage uns nicht wirklich zugänglich ist? Wäre es nicht an sich nur dem Individuum möglich, diese Definition zu geben? Aber es ist möglich, sich diesen Zustand zu "imaginieren", von dieser Vorstellung eine (vorläufige) Definition abzuleiten, sie wie ein Ziel zu formulieren und stückweise die zutreffenden Prädikate zu sammeln, sie zusammenzusetzen und so langsam die Fiktion von "Individuum" an seine tatsächliche Bedeutung anzunähern.
Eine mögliche Definition läßt sich von dem gleichnamigen lateinischen Wort ableiten. Es bedeutet "ungeteilt" oder "unteilbar" [1]. Nach innen stellt die so bezeichnete Person ein unteilbares Ganzes dar, nach außen eine Einheit gegenüber all den anderen Dingen. Sie ist nicht etwas Zusammengesetztes, ein Konglomerat - sie stellt die Einheit mit sich selbst dar, die Einzelperson.
Nietzsche selbst bestimmt das Individuum stark dadurch, inwieweit eine Reflexion und dann gegebenenfalls eine Loslösung von der vorherrschenden, schlicht übernommenen Moral gelingt und ein Vertrauen in die Vernunft und die Erfahrung das Vertrauen in das Gefühl ablöst. Wie er schon in der Vorrede der Morgenröte andeutet: "[...] wer auf solchen eigenen Wegen geht", und was sonst bliebe dem Individuum übrig, "begegnet niemandem: das bringen die eigenen Wege mit sich" [2]. Aber wie kann der Mensch seinen eigenen Weg finden und sich dem Zustand des Individuellen annähern?
Was macht den Menschen zum Individuum?
Ein wichtiges Merkmal des Individuum ist, dass nur der betreffende Mensch sich selbst dazu machen kann. Für Nietzsche ist der Mensch folglich nicht a priori ein Individuum. Um diesen Zustand des Selbst zu erreichen ist viel Mühe und Zeit erforderlich. Dieser Schritt und Weg muß von jedem Menschen selbst begangen werden, es gilt, durch eine gründliche Reflexion über die Welt mit all ihren Phänomenen und sich selbst eine Überprüfung aller Werte vorzunehmen und dabei dem Prinzip der Erfahrung und Vernunft zu folgen. Auf diesem Weg nähert sich der Mensch stetig dem an, was er wirklich ist - im Gegensatz zu seinem Anfangspunkt: das zu sein, "wozu er von oben her gemacht wird" [3].
Dieses Gemacht-werden ist nicht unbedingt, es ist möglich, sich dem zu entziehen und nach der Wahrheit über sich selbst zu suchen und auch aktiv an der Entstehung des eigenen Selbst zu arbeiten. Wie Nietzsche in "Jenseits von Gut und Böse" feststellt, ist "der Mensch das noch nicht festgestellte Tier" [4], das heißt, er ist theoretisch lernfähig, seine Herkunft muß nicht seinen Werdegang determinieren, ebensowenig muß dies die herkömmliche Moral. Aber in Wirklichkeit ist dies scheinbar nur allzu oft der Fall, so dass eine nähere Analyse dieses Umstandes erforderlich ist.
Was steht der Individualisierung im Weg?
Nietzsche stellt fest, dass durch das Einschlagen des eigenen Weges eine grundlegende Veränderung im Verhältnis zu unseren Mitmenschen eintreten wird, indem sie "beleidigt" sind, "spotten", "uns für eitle Narren" halten oder versuchen "unsere Motive zu schwärzen" [5]. Dies mag vielleicht den Entschluß zum eigenen Weg in Frage stellen, wenn die betreffende Person die Meinungen der Mitmenschen noch mehr wertschätzt als die eigene - Nietzsche rät, "seine Souveränität damit anfangen, daß man für ein Jahr voraus allen uns Bekannten für Sünden jeder Art Amnestie zusichert" [6]. Dies trägt der Möglichkeit Rechnung, dass sie sich an diesen Entschluß und an das veränderte Verhalten gewöhnen, so dass diese ihr eigenes Verhalten der Person gegenüber wieder abändern könnten. Ansonsten würde sich nach dieser Zeit die grundlegende Frage nach dem Sinn einer Weiterführung der Beziehung zu diesen stellen.
Des Weiteren führt Nietzsche an, "man sieht einem Menschen viele Schwächen der Moralität nach und handhabt dabei ein großes Sieb, vorausgesetzt, daß er sich immer zur strengsten Theorie der Moral bekennt!" [7] - eine Voraussetzung, die beim Einschlagen des eigenes Weges nicht mehr gegeben ist. Dies mag innerhalb des Umfeldes der Person für Gesprächsstoff sorgen, dieses dazu ermuntern, moralischen Druck auszuüben und Unverständnis oder gar Abneigung hervorbringen. Die neu eingeschlagenen Wege werden von diesen vielleicht genau beobachtet werden, "mit dem Hintergedanken, daß ein Fehltritt des Lebens das sicherste Argument gegen eine unwillkommene Erkenntnis sei" [8], also um für sich selbst eine scheinbare Bestätigung dafür zu finden, an dem Glauben an die Rechtmäßigkeit der herkömmlichen Moral weiterhin festhalten zu können. Inwiefern und unter welchen Umständen die Moral der Individualisierung im Weg steht soll an späterer Stelle behandelt werden, aber auch die bisher geschilderten Probleme werfen die Frage nach dem Sinn eines solch schwierigen und anstrengenden Unterfangens auf. Ohne diesen für sich erkannt zu haben wird es um so schwerer sein, die notwenige Motivation aufbringen zu können, was die Chancen auf einen Erfolg negativ beeinflussen wird. Der Klärung des Sinns einer Entscheidung zum Individuum kommt also ein nicht zu unterschätzender Stellenwert zu.
Wieso sollte man ein Individuum sein?
Neben all den bereits erwähnten Schwierigkeiten gibt es auch beachtliche Vorteile für den Menschen, der sich für die Suche nach sie selbst entschieden hat. Beispielsweise kann, wie Nietzsche in der "Morgenröte" anführt, nur dieser das Sklaventum ablegen, der weiß "was frei atmen heißt" [9], d.h. der sich seiner inneren Werte und deren Wert bewusst ist. Jene, die diese Erfahrung nicht ihr eigen nennen können, werden "als Schrauben einer Maschine und gleichsam als Lückenbüßer der menschlichen Erfindungskunst verbraucht" [10]. Durch diesen Umstand werden die inneren Werte der Menschen für rein äußerliche Ziele missbraucht, die Priorität liegt auf der Maximierung von nicht individuellem Nutzen, nicht auf der Erreichung persönlicher Ziele. Wenn man an diesem Prozess beteiligt ist, so gibt man seine Herrschaft über sich selbst aus der Hand. Ein Individuum würde sich diese Wertschätzung des Unpersönlichen nicht zu eigen machen und folglich an einem solchen Prozess der Sklaverei nicht teilhaben. Sich wirklich zu kennen, ein freies und selbstbestimmtes Leben zu führen und seine Entscheidungen aufgrund der Vernunft und der eigenen Erfahrung zu treffen sind Eigenschaften, die nur dem Individuum zukommen. Dieses beinhaltet auch, dass eine authentische Handlung erst durch die mittels Selbsterkenntnis reflektierten Wertschätzung möglich ist und ein Wissen ob des Grundes dieser nur dem Individuum zugänglich sein könnte.
Die herkömmlich so unbekannten Mechanismen der Gefühle des Menschen werden durch die reflektierende Selbsterkenntnis des werdenden Individuums ebenfalls stets mehr und mehr transparent gemacht, so dass viele davon vielleicht später grundlos erscheinen werden. Beispielsweise fordert Nietzsche: "Schaffen wir den Begriff der Sünde aus der Welt" [11], denn diese wirkt als Gefühl der Schuldhaftigkeit in uns, ohne dass wir uns darüber bewusst wären, dass die Gefühle auf "Folgerungen von Urteilen, die wir für falsch halten, von Lehren, an die wir nicht mehr glauben" [12] beruhen. Erst dem Individuum wird es zukommen, diese falschen Urteile revidiert zu haben.
Auch bietet dieser Weg eine Möglichkeit, dem Zustand zu entgehen, den Nietzsche im Aphorismus "Die Täglich-Abgenützten" beschreibt, nämlich den, zu vielem befähigt zu sein und dennoch nichts Eigenes daraus schaffen zu können. "Man hat ihnen nie Zeit gelassen, sich selber eine Richtung zu geben, vielmehr sind sie von Kindesbeinen an gewöhnt, eine Richtung zu empfangen" [13], was dazu führt, zeitlebens an dem vorbei zu leben, was eigen und vielleicht sogar erfüllend gewesen wäre. Doch auch die herkömmliche Moral, die es für das werdende Individuum zu reflektieren und zu ändern gilt, hat auch einen unzulässigen Einfluß auf das Glück der einzelnen Person, "denn das individuelle Glück quillt aus eigenen, jedermann unbekannten Gesetzen, es kann mit Vorschriften von außen her nur verhindert, gehemmt werden" [14] und eben eine solche Vorschrift stellt diese Moral dar. "Die Vorschriften, welche man,moralisch' nennt, sind in Wahrheit gegen die Individuen gerichtet und wollen durchaus nicht deren Glück" [15]. Es ist also Nietzsche zufolge für jeden Einzelnen sinnvoll, einen neuen Weg, den eigenen Weg, einzuschlagen und nicht weiterhin dem Diktat dessen zu folgen, was die Anderen für "richtig" erachten.
"Schein-Egoismus" und "Nebel"
Nietzsche bedient sich im Aphorismus "Der Schein-Egoismus" der "Morgenröte" des Symbols des "Nebels" um auszudrücken, dass die meisten Menschen ihr Leben lang nichts für ihr wirkliches Ego tun, sondern lediglich für ihr Schein- Ego. Dieses Schein-Ego oder Phantom von Ego drückt sich für Nietzsche dadurch aus, dass es in den Köpfen der Mitmenschen über das potentielle Individuum gebildet und ihm von jenen mitgeteilt wird - ohne dass sie sich dessen bewußt sind. Es stellt insofern auch eine Form des bereits erwähnten Diktats dar. Dieser symbolische "Nebel" umgibt die Menschen und besteht aus unpersönlichen Meinungen und willkürlichen Wertschätzungen, die im Kopfe des Einzelnen über die jeweiligen anderen Menschen entstehen und umgekehrt - es wird dem Menschen diktiert und auch er diktiert den Anderen. Demnach lebt "einer immer im Kopfe des andern, und dieser Kopf wieder in anderen Köpfen" [16]. Nietzsches These zufolge wächst und lebt dieser "Nebel" fast unabhängig von den Menschen und enthält allgemeine Urteile über den Menschen selbst. Problematisiert wird der Aspekt, dass die sich selbst unbekannten Menschen an die Urteile dieses "Nebels" glauben und ihre Wertschätzungen und der Glaube an ihr Selbst somit auf reiner Fiktion beruhen. Nur die Urteile der Mächtigen, Nietzsche nennt Fürsten und Philosophen als Beispiele, können Veränderungen an diesem Abstraktum "Nebel" vornehmen und dies beeinflusst die Mehrzahl der Menschen in außerordentlichem und unvernünftigem Maße.
Das Problem besteht somit darin, dass der Einzelne in Abhängigkeit von den Anderen dieser Fiktion kein wirklich ergründetes Ego entgegenzustellen vermag. Eben dadurch würde der "Nebel" als Fiktion aufhören für den Einzelnen relevant zu sein und die Macht zur Bestimmung von Meinung und Wertschätzung würde auf die Einzelperson übergehen, wodurch diese nicht mehr Ausdruck von Fiktion und Willkür wären, sondern ein Produkt seines Verstandes, seiner Vernunft.
Zusammenfassend läßt sich folglich feststellen, dass der Weg zum Individuum ein schwieriger ist, der durch verschiedenste Umstände behindert werden kann. Aber es ist nach Nietzsche sinnvoll dieses Wagnis einzugehen, zumal nach der Loslösung von den diversen Hindernissen weit mehr Vor- als Nachteile für den betreffenden Menschen zu verzeichnen bleiben, das Leben vielleicht eben dadurch erst seinen ihm eigenen individuellen Sinn bekommt. Der zentralen Frage folgend bleibt zu klären, welcher Stellenwert der Moral zukommt, was sie ausmacht und welche Wirkungen sie auf den Menschen ausübt.
Nietzsches Vorstellung von der Moral
Definition: "Moral"
Moral versteht sich als Sittenlehre. Nietzsche definiert Sitte als "die herkömmliche Art zu handeln und abzuschätzen" [17], wodurch bereits die enge und innige Beziehung der Sitte zum Herkommen, welches eine "höhere Autorität, welcher man gehorcht, nicht weil sie das Nützliche befiehlt, sondern weil sie befiehlt" [18] darstellt, deutlich gemacht wird. Sitte "repräsentiert die Erfahrungen früherer Menschen über das vermeintlich Nützliche und Schädliche" [19], ist also quasi tradierte Erfahrung, die, um den Anspruch auf Gültigkeit zu bewahren, der stetigen Prüfung bedarf. Gegenüber diesen Sitten Gehorsam zu zeigen, "welcher Art diese auch sein mögen" [20], bezeichnet Nietzsche mit dem Begriff der Sittlichkeit.
Zweck der Moral
Das Ziel der Moral soll allgemein bestimmt sein als "die Erhaltung und Förderung der Menschheit" [21], welches Nietzsche als reinen Willen zu einer Formel enttarnt. Die grundlegenden Elemente dieser Formel sind darin eben immer noch unbestimmt, nämlich die Fragen "Erhaltung - worin?" und "Förderung - wohin?" [22], so dass diese Formel den Ansprüchen einer Definition nicht genügen kann. Wie also würde Nietzsche den Zweck der Moral beschreiben? Gewiss leugnet seine Philosophie nicht den grundlegenden Sinn der Moral, "jede Sitte ist besser als keine Sitte" [23]. In der Morgenröte "wird der Moral das Vertrauen gekündigt" [24], auch wenn es auf den ersten Blick widersprüchlich erscheint: Nietzsches gesamte Kritik an der Moral selbst geschieht, wie er im Vorwort der Morgenröte offenbart, "aus Moralität!" [25], so dass er, sinnbildlich gesprochen, versucht, Feuer mit Feuer zu bekämpfen.
Der Sinn einer Moral sollte durch ihren Inhalt und dieser durch die jeweilige Person selbst bestimmt werden - eine herkömmliche Moral sollte keinen Anspruch auf allgemeine Gültigkeit geltend machen können. Folglich würde der Sinn eines moralischen Gesetzes vor allem für die es (sich selbst) gebende Person groß sein - und das, denke ich, ist auch die Intention dessen, was Nietzsche fordert, nämlich, dass man sich das Moralgesetz selber geben sollte, anstatt es "irgendwoher nehmen oder irgendwo es auffinden oder irgendwoher es sich befehlen" [26] zu lassen. "Der starke Wille konnte den schwächeren unter sich beugen. Er konnte befehlen" [27]. Aber die herkömmliche Moral ist mitunter auch Mittel der Schwachen, Herrschaft über die Starken auszuüben, solange diese sich durch das Gefühl der Sittlichkeit an diese binden lassen.
Verbindung von Moral und Gefühl
Moral und Gefühl sind eng miteinander verknüpft, zumindest besitzt die Moral die Macht, Gefühle in uns auszulösen. Beispielsweise könnte nach einem Verstoß gegen ein moralisches Gebot das Gefühl der Schuld aufkommen und in dessen Folge das Bedürfnis nach Strafe. Nietzsche ist der Auffassung, dass sich Gefühle von einer Generation zur nächsten vererben können, die dazugehörigen Gedanken allerdings nicht. So wird in der ersten Filialgeneration der Gedanke, "vorausgesetzt, daß er nicht durch die Erziehung wieder dahintergeschoben wird" [28], vom dazugehörigen Gefühl entkoppelt sein, so dass das Gefühl konstant bleibt, ihm in der Filialgeneration allerdings die Begründung fehlt. Diese Unverhältnismäßigkeit führt Nietzsche zu der Annahme, dass deshalb Gefühle als defizitär zu betrachten sind. Ihnen zu vertrauen "das heißt seinem Großvater und seiner Großmutter und deren Großeltern mehr gehorchen als den Göttern, die in uns sind: unserer Vernunft und unserer Erfahrung" [29]. Es müssen folglich dem nach dem Individuum strebenden Menschen vorerst, "alle höheren Gefühle verdächtig sein, so sehr sind sie mit Wahn und Unsinn verquickt" [30], dies kann nur dadurch geändert werden, dass die inkorporierte Moral einer "allmählichen Reinigung" [31] unterzogen wird. Es ist von Bedeutung, mehr über den Vorgang der Inkorporierung der Moral herauszufinden, wenn von diesem Punkt aus eine Reflexion der Moral möglich sein soll.
Wie wird der Mensch moralisch und welche Auswirkungen hat die Moral auf sein Leben?
Der Mensch ist nach Nietzsche weder a priori Individuum noch moralisch. Dennoch gelangen alle Menschen zu einer Art der Moral, so dass sich die Frage stellt, wie es dazu kommt, dass der Mensch sich Moral erwirbt. Wie geht dies vor sich? "Ersichtlich werden moralische Gefühle so übertragen, daß die Kinder bei den Erwachsenen starke Neigungen und Abneigungen gegen bestimmte Handlungen wahrnehmen und daß sie als geborene Affen diese Neigungen und Abneigungen nachahmen" [32], so dass auch hier eine Tradition der Moral vorliegt. Die Erziehung im weitesten Sinne hat also fundamentale Auswirkungen auf unsere Aneignung dessen, was wir später als Moral bezeichnen würden. In den seltensten Fällen erfährt die so einmal erlernte Moral noch eine Untersuchung auf deren Begründung - meist wird sie ohne Rückfragen als die eigene Moral mißverstanden.
Der Einfluß der Moral auf das Leben kann kaum überschätzt werden, denn in praktisch jedem Gedanken und Gefühl ist sie als bewusste oder unbewusste Wertschätzung vorhanden, der Mensch hat "allem, was da ist, eine Beziehung zur Moral beigelegt und der Welt eine ethische Bedeutung über die Schulter gehängt" [33]. Die Beziehung von Moral und dessen Objekten ist also keine natürliche, keine a priori gegebene - es handelt sich um ein synthetisches und erdachtes Konstrukt. Sie wird dem Menschen a posteriori als seine zweite Natur anerzogen, die widersinnigerweise, so Nietzsche, dem Menschen durch die Erziehung zuerst beigebracht wird. "Einige wenige sind Schlangen genug, um diese Haut eines Tages abzustoßen: dann, wenn unter ihrer Hülle ihre erste Natur reif geworden ist. Bei den meisten vertrocknet der Keim davon" [34], so dass das Gefühl der Individualität weiterhin nur auf einer fälschlichen Annahme, einem schlichten Irrtum in sich selbst beruht. Auf diese Weise wird in diesen Fällen die herkömmliche Moral das weiterhin am meisten bestimmende Element für die betreffende Person sein und bleiben. Aber Nietzsche ist sich dennoch der enormen Wichtigkeit der Moral an sich bewußt. "Ohne die Irrtümer, welche in den Annahmen der Moral hegen, wäre der Mensch Tier geblieben" [35], er hätte die Möglichkeit der Wahl des eigenes Weges nie bekommen und hätte nie eine "höhere" Kulturstufe erreichen können. Die Moral scheint also im Laufe der Zeit gewissen Wandlungen unterworfen gewesen zu sein, so dass sie nicht wirklich als rigide zu betrachten ist.
"Arten" von Moral / wie wird die Moral verändert?
Die Landschaft der Moral ist durchaus verschieden, so gibt es abhängig vom jeweiligen Kulturkreis oder der Religionszugehörigkeit auch andere Inhalte der Moral. Eine nähere Unterteilung in beispielsweise christliche, deutsche, französische oder muslimische Moral scheint also sinnvoll. Gleich ist diesen allerdings deren Auswirkung und Tradierung, ebenso wie der von ihnen geforderte Gehorsam, also der "Druck der 'Sittlichkeit der Sitte'" [36].
Eine Veränderung der allgemein anerkannten Moral geschah, wie Nietzsche feststellt, fast immer durch den Wahnsinn, "welcher dem neuen Gedanken den Weg bahnt, welcher den Bann eines verehrten Brauches und Aberglaubens" [37] zu brechen vermochte. Man war der Meinung, dass in jedem Ausdruck des Wahnsinns auch etwas Weisheit und "Göttliches" zum Vorschein kommen müsse, was eine Veränderung der gegebenen Moral durch reinen Aberglauben zu rechtfertigen schien. So blieb den Neuerern früherer Zeitalter nichts anderes übrig, als "wenn sie nicht wirklich wahnsinnig waren, [...] sich wahnsinnig zu machen oder zu stellen" [38]. Wie Nietzsche bereits in der Vorrede zur Morgenröte zum Ausdruck bringt, ist es seit jeher ein gefährliches Wagnis gewesen, über die Moral nachzudenken und sie gegebenenfalls verändern zu wollen, "in der Gegenwart der Moral soll, wie angesichts jeder Autorität, nicht gedacht, noch weniger geredet werden: hier wird gehorcht!" [39]. Sie repräsentiert nicht nur "die Erfahrungen früherer Menschen über das vermeintlich Nützliche und Schädliche", sie wirkt auch, Kraft ihrer Autorität, die sich nur durch die an sie glaubende Masse von Menschen erhält, "der Entstehung neuerer und besserer Sitten entgegen: sie verdummt" [40]. Um potentielle Neuerer an ihrem Werk zu hindern, bedient sie sich, wie Nietzsche anführt, jeder "Art von Schreckmitteln": "Das Gewissen, der gute Ruf, die Hölle, unter Umständen selbst die Polizei erlaubten und erlauben keine Unbefangenheit" und schafft sich weitere Sicherheit durch ihre, wohl subtile, "Kunst der Bezauberung, auf die sie sich versteht, - sie weiß zu 'begeistern'" [41], letzteres wohl dadurch, dass sie ein irreales Gefühl der Verhaltenssicherheit und Rechtmäßigkeit zu verschaffen vermag und somit den existentiellen Ängsten des Menschen, zum Beispiel vor seinen Trieben, als rein glaubensbedingte Linderung entgegenwirkt. Die wenigen, die sich dennoch gegen die herkömmliche Moral als Autorität stellen, müssen sich damit abfinden, zuerst für "schlechte Menschen" befunden, um dann vielleicht später, wenn man der Geschichte der Menschheit, wie Nietzsche sie darstellt, glauben kann, "gutgesprochen" [42] zu werden.
Normative Bewertung der herkömmlichen Moral
Wie wäre die herkömmliche Moral nach den bisherigen Ergebnissen zu bewerten und rechtfertigen diese in einer normativen, d.h. Maßstab gebenden, Weise, Stellung zu nehmen? Nietzsches Philosophie zufolge ist die herkömmliche Moral defizitär und der Gehorsam ihr gegenüber, also die Sittlichkeit, sollte unterbunden werden, weil seine Vorraussetzungen ebenfalls defizitär sind. Es bedeutet für Nietzsche, zu "leugnen, daß die sittlichen Urteile auf Wahrheiten beruhen" [43], nicht allerdings, dass es sehr viele Menschen gibt, die eben diese für Wahrheiten halten und ihr Handeln danach erfolgreich ausrichten auch wenn dies in Anbetracht Nietzsches Folgerungen keinen Anspruch auf Richtigkeit hat. Die Kritik der sittlichen Gründe erfolgt somit am Maßstab der Wahrheit. Diese Argumente sind auf die herkömmliche Moral allgemein anwendbar, so dass sie dem Anspruch einer diesbezüglichen Norm, d.h. quasi einer Richtschnur, gerecht werden können.
Wechselwirkungen zwischen Moral und Individuum
Kollektiver Individualismus und seine Auswirkungen
Die inkorporierte Moral ist für den Menschen zu seiner zweiten Natur geworden, sie ist ein synthetisches und nicht-individuelles Produkt der Erfahrungen früherer Menschen und steuert die Gefühle des Menschen in nicht zu unterschätzender Weise. In Anbetracht dieser Ergebnisse scheint es kaum glaubhaft zu sein, dass neben dieser mächtigen Instanz eine Art Ich-Gefühl existieren kann. Doch augenscheinlich ist das Gegenteil der Fall. Wie kommt es zu diesem Umstand? Nietzsche zufolge tun die "allermeisten, was sie auch immer von ihrem,Egoismus' denken und sagen mögen, [...] ihr Leben lang nichts für ihr ego, sondern nur für das Phantom von ego" [44], ohne dieses als gegeben sich bewußt zu machen. In ihnen existiert ein Gefühl von Individualität, das sich auf Unwissenheit, fehlende Reflexion und Bekräftigung durch die Mitmenschen stützt. Dieses Gefühl ist an sich nichts Individuelles, es ist nicht aus ihnen heraus entstanden durch die Erkenntnis ihrer Selbst, es ist ein Teil des "Nebels", der sie alle umgibt - und es ist ein Gefühl, das den meisten vom "Nebel" Umhüllten zu eigen ist und beruht auf einem Fehlschluss, beispielsweise, dass eine kleine Modifikation der Moral oder das schlichte sich anders als ein Anderer Empfinden wirkliche Individualität bedeutet. Das Kollektiv dieser Menschen empfindet sich als eigenständige Individuen und teilt sich dieses wechselseitig mit, obwohl sie alle von diesem Zustand des Selbst weit entfernt sind. Sie alle behaupten von sich, individuell zu sein, können dies nur dadurch behaupten, dass sie sich mit sich selbst nicht auseinandersetzen, sich selbst unbekannt sind, an die Bestärkung der Mitmenschen mehr glauben als an ihre Vernunft und mit großer Wahrscheinlichkeit sich gar keinen Begriff davon gemacht haben, was denn Individualität wirklich zu bedeuten hätte. Ihre Wahl ist nicht auf den langwierigen und einzig möglichen Weg zum Individuum gefallen, den durch Selbsterkenntnis und Reflexion aller Werte, sie haben sich für die vermeintliche Abkürzung dieses Weges entschieden, dadurch, dass sie sich ihre "Individualität" mitteilen lassen und anderen deren und ihre eigene mitteilen. Die Menschheit "verläßt immer bei der frohen Botschaft, daß ein solcher küzerer [Weg] gefunden sei, ihren Weg - und verliert den Weg" [45]. Der Begriff "kollektiver Individualismus" ist somit zu Recht in sich widersinnig, paradox.
Als Auswirkung dessen ist es für den einzelnen Menschen viel schwieriger, den eigenen Weg zum Individuum noch zu finden, denn das Finden dieses setzt zuerst die Suche danach voraus - und es dürfte widersinnig erscheinen etwas noch suchen zu wollen, was man bereits gefunden glaubt. Abgesehen davon erzeugt der "kollektive Individualismus" den Irrglauben, dass es möglich ist ein Individuum zu sein und die herkömmliche Moral für die eigene zu halten. Doch warum sollte diese den nachträglichen Prozess der Individualisierung mehr beeinträchtigen als die überprüfte Moral?
Vergleich: überprüfte und übernommene Moral
Wie bereits an anderer Stelle erläutert, ist Nietzsche der Meinung, dass wir als Kinder die Moral unser Umgebung, das soll heißen, die unserer Eltern, Großeltern, Lehrer, Bekannten etc., "als geborene Affen" [46] imitieren und einüben, bis wir sie uns eigen gemacht haben. Durch diese Mimikry, den Trieb zur Verhaltensimitation, der uns befähigen kann, eine möglichst exakte Anpassung an unser jeweiliges Umfeld vorzunehmen, besitzen wir im späteren Leben eine rein übernommene Moral, die der unserer Vorfahren gleicht, insofern wir diese nicht einer grundlegenden Überprüfung unterzogen haben. Wie ebenfalls bereits im Vorfeld geschildert versucht die Autorität der Moral uns durch unser Gefühl der Sittlichkeit daran zu hindern, sie zu hinterfragen, so dass die Erreichung einer eigenständig überprüften und gegebenenfalls abgeänderten Moral nur Ziel eines gefährlichen und äußerst unbequemen Weges sein kann. Allerdings bedeutet diese dann eigene Moral einen großen Schritt hin zum Individuum. Es ist ein Vorgang des Denkens, des Reflektierens, der die übernommene Moral auf deren Aktualität, Sinn und Begründung hin analysieren kann. Die Verbindung von Moral und Gefühl führt allerdings zu der Notwendigkeit, über das reine Denken noch hinauszugehen.
"Umdenken - Umfühlen"
Nicht die gezeigte Handlung ist für Nietzsche entscheidend für die Bewertung ihrer selbst, sondern der Grund, wieso sie unternommen wurde. "Man blickt nicht mehr auf das Ende, sondern auf den Anfang der Handlung. Dabei gerät ganz von selbst der Handelnde in den Blick, der sich eben dadurch zum Problem macht" [47], denn der Einfluß auf das Handeln gemäß einer Intention ist bei weitem größer als der auf das Ergebnis einer solchen, denn dieses hängt noch stärker von externen Faktoren ab. Es steht für ihn außer Frage, "daß viele Handlungen, welche unsittlich heißen, zu vermeiden und zu bekämpfen sind; ebenfalls, daß viele, die sittlich heißen, zu tun und zu fördern sind" [48], aber es ist falsch, dass diese aus selbigen Gründen getan werden. Die Forderung, diese "aus anderen Gründen" [49] in Betracht zu ziehen, setzt abermals eine Reflexion der herkömmlichen Moral voraus. Diese ermöglicht eine Erschließung eigener Motive, eigener Gründe, um diese oder jene Handlung zu tun oder eben nicht als Basis dessen könnten wir Gebrauch machen von "den Göttern, die in uns sind: unserer Vernunft und unserer Erfahrung" [50].
"Wir haben umzulernen - um endlich, vielleicht sehr spät, noch mehr zu erreichen: umzufühlen" [51]. Der Verweis auf die Langwierigkeit trägt der enormen Schwierigkeit dieser Aufgabe Rechnung, stellt aber die Möglichkeit der Erreichung dieses hohen Ziels nicht in Frage. Auch an dieser Stelle wird der Zusammenhang von Gefühl und Moral abermals deutlich: analog zur Verhaltenstherapie soll der Mensch, als "das noch nicht festgestellte Tier" [52], zuerst lernen seine Einstellung, in diesem Falle die Moral, zu verändern um dadurch langsam seinem Gefühl die Möglichkeit zu geben, sich den neuen Umständen der umgelernten, eigenen Moral anzupassen. "Wir sollten uns hüten, den Zustand der Moral, an den wir gewöhnt sind, mit einer neuen Wertschätzung der Dinge Hals über Kopf und unter Gewaltsamkeit zu vertauschen, - nein, wir wollen in ihm noch lange, lange fortleben - bis wir, sehr spät vermutlich, inne werden, daß die neue Wertschätzung in uns zur überwiegenden Gewalt geworden ist und daß die kleinen Dosen derselben, an die wir uns von jetzt ab gewöhnen müssen, eine neue Natur in uns gelegt haben" [53]. Diese Therapie des Verhaltens wird langsam ein neues Gefühl zum Vorschein bringen, wenn an der umgelernten Art beharrlich und konsequent festgehalten wird - dieses Gefühl ist dann auf die Einzelperson abgestimmt, das heißt, im Einklang mit ihr, und trägt per definitionem entscheidend dazu bei, aus dem Konglomerat eine innere Einheit, das Individuum, werden zu lassen. Wie Nietzsche abermals betont, ist eine Abkürzung auf diesem Weg, ein "Hals über Kopf", nicht möglich, wenn ein neues und eigenes "Gesetz der Gewohnheit" [54] aufgestellt werden soll. "Wenn man sich nicht selbst feststellen kann, so kommt es darauf an, wie man mit sich umgeht" [55], denn durch dieses Verhalten sich selbst gegenüber ist es möglich, sich selbst eine Form zu geben und Herrschaft über sich selbst auszuüben - in einem potentiell positiven aber nicht absoluten Sinne. Der Mensch ist ein Konstrukt, dadurch, dass er lernfähig ist, kommt es darauf an, was er lernt. Nietzsche zu Folge ist er bestenfalls ein möglichst individuelles Konstrukt, d.h. ein möglichst selbst erkorenes und nicht eines der Umgebung, bzw. dessen was man ihm beigebracht hat - denn eben durch die in "Jenseits von Gut und Böse" erwähnten fehlenden Feststellung bleibt auch ein nachträgliches Umlernen und Reflektieren möglich.
(Be-/Ver-) Hindert Moral die "Entstehung" des Individuums?
Ausführliches Résümée nach Nietzsche
Eine Beantwortung der zentralen Frage ist nur nach Differenzierung des Moralbegriffs möglich. Eine pauschale Beantwortung würde den Verschiedenheiten von angenommener und überprüfter Moral nicht gerecht werden und somit zu einem unzureichenden Ergebnis führen. Wie bereits vorher erläutert, unterscheidet Nietzsche angenommene und überprüfte herkömmliche Moral voneinander. Unter Berücksichtigung dessen stellt sich nun also die Frage, inwiefern die angenommene Moral den nachträglichen Lernprozeß zum Individuum be- oder gar verhindert.
Die herkömmliche Moral, als tradierte Erfahrung früherer Menschen über das damals für Gut und Schlecht befundene, wird dem Menschen durch die Erziehung im weitesten Sinne, also durch sein gesamtes Umfeld vermittelt und fordert von ihm Gehorsam gegenüber sich selbst ein, welchen sie notfalls mit "Schreckmitteln" aller Art zu verteidigen versucht. Wie daraus folgt, ist sie also von außen her der Person diktiert worden, und das hauptsächlich in einer Zeit vor der Adoleszenz, in der keine ausreichende Befähigung zur Reflexion vorhanden war. Die herkömmliche Moral stellt somit einen Teil des Konglomerats des Selbst dar, auch wenn der Mensch sich damit in Einklang fühlen sollte, und augenscheinlich folglich nicht unter ihr zu leiden hat, ist er dadurch nicht im Einklang mit sich selbst, weil die herkömmliche Moral per definitionem für niemanden etwas authentisch Eigenes sein kann. Zwar hat man sie sich zu eigen gemacht, unter dem Druck der Anderen, aber sie ist dadurch dennoch nichts Eigenes in dem entscheidenden Sinne, dass es nicht von innen, aus der betreffenden Person selbst kommt. Der nachträgliche Lernprozess zum Individuum kann also von der herkömmlichen Moral bestenfalls behindert werden, und das ist genau dann der Fall, wenn die Entscheidung zu diesem Prozess bereits gefallen, aber noch keine ausreichende Reflexion dieser Moral stattgefunden hat - beispielsweise dadurch, dass durch die bereits angesprochene Verknüpfung von Gefühl und Moral für die Person eine Art von Leidensdruck entsteht, wie es bei allen Verstößen gegen die Sittlichkeit der Sitte der Fall ist. Andernfalls, wenn dieser Lernprozeß nicht als Ziel erkannt wurde und / oder die Inkorporierung der herkömmlichen Moral soweit fortgeschritten ist, dass, wie Nietzsche in Aphorismus 455 der Morgenröte schreibt, der Keim der ersten Natur vertrocknet, oder der Glauben an die Sittlichkeit zu groß geworden ist, so wird durch diese Moral die Entstehung des Individuums sogar verhindert, was durchaus in "ihrem" Interesse liegt, denn "die Gefahr der Gefahren - das Individuum" [56] würde sie zu leugnen und ihre Autorität durch fehlenden Glauben an diese Moral unschädlich zu machen wissen. Es verhält sich also mit der Moral ähnlich wie mit dem Symbol des "Nebels" - durch Verweigerung des Glaubens an diese und durch deren Konfrontation mit dem "ergründeten ego" hat man alles beisammen, was sie "zu vernichten vermag" [57].
Somit ist ersichtlich, warum die herkömmliche Moral niemals Teil des Individuums sein kann, denn es ist kein Konglomerat aus Verschiedenem mehr. Es ist es selbst und sonst nichts. Eine entscheidende Etappe des Weges zu diesem Ziel besteht eben darin, sich von dieser Moral als einer von außen diktierten, zu entledigen und durch gründliche Überprüfung zu einer eigenen Moral, basierend auf Vernunft und Erfahrung zu gelangen. Die herkömmliche Moral vermag nur das allgegenwärtige Paradoxon des kollektiven Individualismus hervorzubringen, eben jenen Zustand, in dem alle Menschen mehr oder weniger gleich sind, weil sie die gleiche Moral teilen und sich dennoch für individuell halten - echte Individualität sucht sie per definitionem zu verhindern.
Anders verhält es sich mit der überprüften Moral. Sie ist, wenn vollständig und stetig reflektiert, eine Kritik der herkömmlichen Moral am Maßstab der Wahrheit, das heißt, sie leugnet, dass die Gründe der Sittlichkeit gegenüber dieser auf wahren Urteilen beruhen. Folglich zollt die Person der Sittlichkeit der Sitte keinen Respekt und Gehorsam mehr, die herkömmliche Moral ist nun zu dem geworden, was sie ist, nämlich eine Überlieferung von früheren Erfahrungen, die kein unbedingtes Recht mehr darauf haben, heute noch Gültigkeit oder Gehorsam für sich zu beanspruchen. Dies bedeutet allerdings auch nicht deren sofortige und absolute Aufhebung: durch den Vorgang der Überprüfung soll eben durch die Vernunft und die eigene Erfahrung, welche, wie Nietzsche anführt, die Götter "die in uns sind" [58] darstellen, festgestellt werden, welche moralischen Gesetzte davon noch den Kriterien der Wahrheit entsprechen. Durch diese eigene Reflexion mittels der eigenen Vernunft und Erfahrung entsteht so auch eine eigene, individuelle Moral, die sich nicht mehr auf Aberglauben und Überlieferung zu stützen nötig hat.
Die eigens überprüfte Moral stellt somit in keiner Weise eine Behinderung der Entstehung des Individuums dar - im Gegenteil: sie ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu diesem Zustand des Selbst. Die innere Einheit der Person wird durch sie gefördert und entscheidend vorangebracht, weil die Instanzen zur Überprüfung der herkömmlichen Moral alleinig aus dem einzelnen Menschen selbst stammen und die Abänderungen an dieser, nur durch eigene Erfahrung und Vernunft, gemessen an der Wahrheit, vorgenommen wurden. Diese Moral ist somit nicht mehr Teil des Konglomerats, sie ist aus der betreffenden Person selbst entstanden und bildet somit eine Einheit mit ihr. Wie Nietzsche im Aphorismus 108 der Morgenröte anprangert, "sollte das Moralgesetz [bisher] über dem Belieben stehen: man wollte dies Gesetz sich nicht eigentlich geben, sondern es irgendwoher nehmen oder irgendwo es auffinden oder irgendwoher es sich befehlen lassen" [59]. Eben dieses trifft auf die überprüfte Moral nicht mehr zu: die einst befohlene Moral wurde überprüft und geändert, die Person hat sich das neue Moralgesetz selbst gegeben, so dass ein großer Schritt zum Individuum bereits gegangen ist. "Wir haben den großen Mut zum Irren, Versuchen, Vorläufig-nehmen wieder erobert - es ist alles nicht so wichtig! - und gerade deshalb können Individuen und Geschlechter jetzt Aufgaben von einer Großartigkeit ins Auge fassen, welche frühere Zeiten als Wahnsinn und Spiel mit Himmel und Hölle erschienen sein würden. Wir dürfen mit uns selber experimentieren!" [60]
Abschließende Bemerkungen
Nach Nietzsche dürfte die thematisierte Frage, "Ist die Moral dem Individuum entgegengesetzt?", nicht hinreichend beantwortet werden können, ohne die Moral näher zu differenzieren. Eine allgemeingültige Antwort auf diese Frage scheint somit nur unbefriedigende Resultate liefern zu können. Nach Unterscheidung der Moral in eine überprüfte und eine herkömmliche wird unter Berücksichtigung der bisherigen Ergebnisse der Schluß möglich, die herkömmliche Moral als eine dem Individuum entgegengesetzte zu erkennen, die bestenfalls, unter bestimmten Vorraussetzungen, den nachträglichen Lernprozeß zum Individuum behindert, ihn andernfalls sogar zu verhindern vermag. Die Eigenschaften der überprüften Moral lassen eine gegenteilige Bewertung zu, insofern die eigentliche Reflexion der herkömmlichen Moral bereits ein Erfordernis auf dem Weg zu Individuum hin darstellt und somit durch diese nicht nur keine Beeinträchtigung erfolgt, sondern sogar eine deutliche Förderung der Individualität des Einzelnen als unbedingte Folge zu verzeichnen bleibt.
Abschließend betrachtet kann ich Nietzsches Thesen, so wie ich sie verstanden und angeführt habe, größtenteils nur entschieden zustimmen. Alleine die Einsicht, dass der Weg zum Individuum nur von jedem Menschen selbst gegangen werden kann ist folgerichtig, anspornend und dennoch eine der wohl mitunter schwersten Aufgaben schlechthin, an der meines Wissens auch Nietzsche selbst gescheitert ist. Die Schwierigkeit der Erreichung dieses (Lebens-) Zieles scheint sich proportional zu seinem Wert zu verhalten, was ich persönlich als weitere Bekräftigung der von Nietzsche aufgestellten Thesen empfinde. Ich denke, fast alle Menschen haben zumindest unbewußt schwer mit der Widersprüchlichkeit der Welt, wie sie uns erscheint, zu kämpfen, so dass das Festhalten an der allgegenwärtigen Moral verständlich, aber für mich dennoch nicht ratsam erscheint. Das Vertrauen auf die Vernunft jedes Einzelnen sollte mehr an Bedeutung gewinnen, so dass der widernatürliche Zustand dieser blind akzeptierten Moral irgendwann überwunden werden kann. Vorerst wird diese Vorstellung wohl reine Utopie bleiben. So wie ich die Welt wahrnehme, wäre ein käufliches, merchandise-taugliches und gewinnmaximierendes Produkt "Individuum" wohl trotz Widersinnigkeit wahrscheinlicher und wohl auch bei weitem beliebter als der Weg der Selbsterkenntnis mit all seinen Zweifeln, Schmerzen und unbeantworteten Fragen.
Abschließend möchte ich mich Nietzsches, in folgendem Zitat der Morgenröte aufgestellten, These anschließen - meiner Meinung nach drückt sie die Grundproblematik der sinnvollen und erfolgreichen Beschäftigung mit sich selbst auch in der heutigen Welt kurz und prägnant aus: "Unser Zeitalter, soviel es von Ökonomie redet, ist ein Verschwender: es verschwendet das Kostbarste, den Geist" [61].
Literatur
- Nietzsche, Friedrich: "Morgenröte". Gedanken über die moralischen Vorurteile. Goldmann: 1999.
- Nietzsche, Friedrich: "Menschliches - Allzumenschliches", "Also sprach Zarathustra", "Jenseits von Gut und Böse". Hauptwerke in einem Band. Parkland: Köln, 1999.
- Gerhardt, Volker: "Selbstbegründung". Nietzsches Moral der Individualität. In: M. Montinari, W. Müller-Lauter, H. Wenzel (Hrsg.) Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche Forschung, Band 21. Walter de Gruyter: Berlin, New York, 1992. 28 - 49
- Hügli, Anton, Poul Lübcke: "Philosophie-Lexikon". Personen und Begriffe der abendländischen Philosophie von der Antike bis zur Gegenwart. Rowohlt: Reinbek, 2001.
- Safranski, Rüdiger: "Nietzsche". Biographie seines Denkens. Hanser: München, Wien, 2000.
Fußnoten
- Hügli, Anton / Poul Lübcke, Philosophie Lexikon, Seite 315, Individuum
- Morgenröte, Vorrede, Aphorismus 2
- Morgenröte, drittes Buch, Aphorismus 166, Am Scheidewege
- Jenseits von Gut und Böse, drittes Hauptstück, Aphorismus 62
- Morgenröte, fünftes Buch, Aphorismus 484, Der eigene Weg
- Morgenröte, fünftes Buch, Aphorismus 484, Der eigene Weg
- Morgenröte, viertes Buch, Aphorismus 209, Die Nützlichkeit der strengsten Theorien
- Morgenröte, viertes Buch, Aphorismus 209, Die Nützlichkeit der strengsten Theorien
- Morgenröte, drittes Buch, Aphorismus 206, Der unmögliche Stand
- Morgenröte, drittes Buch, Aphorismus 206, Der unmögliche Stand
- Morgenröte, drittes Buch, Aphorismus 202, Zur Pflege der Gesudheit
- Morgenröte, zweites Buch, Aphorismus 99, Worin wir alle unvernünftig sind
- Morgenröte, drittes Buch, Aphorismus 178, Die Täglich-Abgenützten
- Morgenröte, zweites Buch, Aphorismus 108, Einige Thesen
- Morgenröte, zweites Buch, Aphorismus 108, Einige Thesen
- Morgenröte, zweites Buch, Aphorismus 105, Der Schein-Egoismus
- Morgenröte, erstes Buch, Aphorismus 9, Begriff der Sittlichkeit der Sitte
- Morgenröte, erstes Buch, Aphorismus 9, Begriff der Sittlichkeit der Sitte
- Morgenröte, erstes Buch, Aphorismus 19, Sittlichkeit und Verdummung
- Morgenröte, erstes Buch, Aphorismus 9, Begriff der Sittlichkeit der Sitte
- Morgenröte, zweites Buch, Aphorismus 106, Gegen die Definitionen der moralischen Ziele
- Morgenröte, zweites Buch, Aphorismus 106, Gegen die Definitionen der moralischen Ziele
- Morgenröte, erstes Buch, Aphorismus 16, Erster Satz der Zivilisation
- Morgenröte, Vorrede, Aphorismus 4
- Morgenröte, Vorrede, Aphorismus 4
- Morgenröte, zweites Buch, Aphorismus 108, Einige Thesen
- Rüdiger Safranski, neuntes Kapitel, Seite 186
- Morgenröte, erstes Buch, Aphorismus 30, Die verfeinerte Grausamkeit der Tugend
- Morgenröte, erstes Buch, Aphorismus 35, Gefühle und deren Abkunft von Urteilen
- Morgenröte, erstes Buch, Aphorismus 33, Die Verachtung der Ursachen, der Folgen und der Wirklichkeit
- Morgenröte, erstes Buch, Aphorismus 33, Die Verachtung der Ursachen, der Folgen und der Wirklichkeit
- Morgenröte, erstes Buch, Aphorismus 34, Moralische Gefühle und moralische Begriffe
- Morgenröte, erstes Buch, Aphorismus 3, Alles hat seine Zeit
- Morgenröte, fünftes Buch, Aphorismus 455, Die erste Natur
- Menschliches, Allzumenschliches, zweites Hauptstück, Aphorismus 40, Das Über-Tier
- Morgenröte, erstes Buch, Aphorismus 14, Bedeutung des Wahnsinns in der Geschichte der Moralität
- Morgenröte, erstes Buch, Aphorismus 14, Bedeutung des Wahnsinns in der Geschichte der Moralität
- Morgenröte, erstes Buch, Aphorismus 14, Bedeutung des Wahnsinns in der Geschichte der Moralität
- Morgenröte, Vorrede, Aphorismus 3
- Morgenröte, erstes Buch, Aphorismus 19, Sittlichkeit und Verdummung
- Morgenröte, Vorrede, Aphorismus 3
- Morgenröte, erstes Buch, Aphorismus 20, Freitäter und Freidenker
- Morgenröte, zweites Buch, Aphorismus 103, Es gibt zwei Arten von Leugnern der Sittlichkeit
- Morgenröte, zweites Buch, Aphorismus 105, Der Schein-Egoismus
- Morgenröte, erstes Buch, Aphorismus 55, Die "Wege"
- Morgenröte, erstes Buch, Aphorismus 34, Moralische Gefühle und moralische Begriffe
- Gerhardt, Volker, Selbstbegründung, Seite 30
- Morgenröte, zweites Buch, Aphorismus 103, Es gibt zwei Arten von Leugnern der Sittlichkeit
- Morgenröte, zweites Buch, Aphorismus 103, Es gibt zwei Arten von Leugnern der Sittlichkeit
- Morgenröte, erstes Buch, Aphorismus 35, Gefühle und deren Abkunft von Urteilen
- Morgenröte, zweites Buch, Aphorismus 103, Es gibt zwei Arten von Leugnern der Sittlichkeit
- Jenseits von Gut und Böse, drittes Hauptstück, Aphorismus 62
- Morgenröte, fünftes Buch, Aphorismus 534, Die kleinen Dosen
- Morgenröte, fünftes Buch, Aphorismus 462, Langsame Kuren
- Safranksi, Rüdiger, neuntes Kapitel, Seite 186
- Morgenröte, drittes Buch, Aphorismus 174, Moralische Mode einer handeltreibenden Gesellschaft
- Morgenröte, zweites Buch, Aphorismus 105, Der Schein-Egoismus
- Morgenröte, erstes Buch, Aphorismus 35, Gefühle und deren Abkunft von Urteilen
- Morgenröte, zweites Buch, Aphorismus 108, Einige Thesen
- Morgenröte, fünftes Buch, Aphorismus 501, Sterbliche Seelen
- Morgenröte, drittes Buch, Aphorismus 179, So wenig als möglich Staat